PALIMPSZESZT
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László TARNÓI
Ungarnimage um 1800 -- Ungarn: Heimat und/oder Fremde -- auf deutsch

Das Ungarnimage, das im folgenden erörtert werden soll, entstand in der historisch bestimmten Zeit um 1800 als das spezifische Heimatverständnis der deutschsprachigen Bevölkerung in Ungarn.

Die meisten unter ihnen waren Stadtbürger des Königreichs, die nach den Türkenkriegen (vom ausgehenden 17. Jahrhundert an), vom demographischen Vakuum im historischen Mittelungarn angezogen, ihre alte Heimat in den österreichischen Erbprovinzen oder in Süddeutschland, ja zum Teil in den Randgebieten des Königreichs verließen, um eine neue, eine zweite Heimat in Pest, Ofen, Szeged, Stuhlweißenburg, Raab, Komorn, Fünfkirchen usw. zu finden. Die Übersiedlung von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern nach Ofen und Pest wurde in den achtziger Jahren während der Josephinischen Administration zusätzlich in hohem Maße gefördert.

Hinzukamen Deutsche aus den schon immer türkenfreien oberungarischen Städten, deren Einwanderung bereits von den ungarischen Königen des hohen Mittelalters um 1200 gefördert wurde. Die Besonderheit ihres Identitätsbewußtseins war vor allem durch ihren evangelischen Glauben geprägt. Auch dies trennte sie von den größtenteils katholischen Neusiedlern. Somit waren ihre kontinuierlichen Kontakte zu den deutschen Universitätsstädten im norddeutschen Mutterland stets lebendig (während der Goethezeit zu Göttingen und Jena, davor zu Wittenberg und Halle, danach auch zu Berlin).

Schließlich gab es unter den Autoren des Königreichs um 1800 eine Reihe deutschsprachiger ungarischer Adliger, deren jeweiliges Heimat- und Identitätsbewußtsein mehr oder weniger auch von österreichischen und/oder deutschen Bildungsnormen und -mustern beeinflußt war.

Zwischen 1795 und 1812 erreichte das städtische kulturelle und literarische Leben dieser deutschsprachigen Bevölkerung seine ersten Höhepunkte - in vieler Hinsicht auch stellvertretend für das damals vorübergehend recht eingeschränkte ungarische literarische Leben - und gewann somit in der Kulturgeschichte Ungarns eine eminente Bedeutung. Dieser Aufstieg des deutschsprachigen kulturellen Lebens erfolgte in Ungarn, als die Besinnung auf die eigene Nation in den mitteleuropäischen Regionen durch aktuelle tagespolitische Ereignisse, sowie bis dahin unbekannte sozialhistorische Entwicklungstendenzen und deutlich divergierende politische und wirtschaftliche Interessen der verschiedenen Länder im geistigen, literarischen, ja sogar im ganzen öffentlichen Leben von Jahr zu Jahr immer mehr an Bedeutung gewann.

Früher genau abgegrenzte Begriffsinhalte von Wörtern solcher synonymischen Reihen wie Vaterland, Heimatland, Heimat, Mutterland, Nation, Staat, Kaiser- und/oder Königreich rückten einander entschieden näher. Die einst (und später wieder) engeren Grenzen der Heimat, des »Landesteils oder Ortes« - siehe Duden - »in dem man (geboren u.) aufgewachsen ist«, erweiterte sich immer mehr auf das ganze Land, eine Deckungsgleichheit mit Vaterland anstrebend. 1800 exponierte z.B. Schiller seine »Jungfrau von Orleans« noch »in den geliebten Triften, / Den traulich stillen Tälern« der engeren Heimat, wo sie allerdings gleichzeitig bereits die Vision des bedrohten Vaterlandes erlebte. Aus der Heimat in das Vaterland bedurfte sie nur noch eines einzigen Schrittes, was ihr nicht mehr schwer fallen durfte, da die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vision (in diesem Falle auch zwischen Heimat und Vaterland) in der romantischen Tragödie, wie sie hieß, bereits frei zu passieren waren. Vier Jahre später, als Attinghausen dem jungen Rudenz den Vorwurf in Worte faßte, »Leider ist die Heimat, / Zur Fremde dir geworden«, trennte diese Heimat überhaupt nichts mehr vom Vaterland, wenn das eigentliche Unterscheidungsmerkmal des letzteren - laut Duden - jenes Land sei »aus dem man stammt, zu dessen Volk, Nation man gehört« und dem man sich auch nach Attinghausen mit dem Dudenwort »zugehörig fühlen« sollte.

Die Deutschen des Königreichs um 1800 fanden allerdings ihre Heimat in Ungarn fast ohne Ausnahme vor der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen, als aus der Urheimat noch kaum etwas von einem deutschen National- und Vaterlandsbewußtsein zu importieren war. So konnte der gelahrte Universitätsprofessor an der Pester Universität, Martin Schwartner, in seinem Hauptwerk die merkwürdigen Schlußfolgerungen über die Deutschen in- und außerhalb Ungarns niederschreiben:

Keine Nation, weder der alten noch der neuen Welt, ist so zerstreut in allen Welttheilen, und unter jeder Zone zu finden, und denkt und handelt in diesem Verstande mehr cosmopolitisch, als die deutsche. Sogar auf die Enkel der Teutonen in Ungarn, scheint sich dieser allgewaltige Trieb [...] verpflanzt zu haben.[1]

Eine nicht nationale weltoffene Sichtweise im Sinne eines ubi bene ibi patria wurde damit 1798 noch als eine hervorragende nationale Eigenschaft aller Deutschen, auch der Ungarndeutschen, apostrophiert.

Dank der unternehmungslustigen Offenheit der Umsiedler für das Neue sowie den verschiedenen Begünstigungen in der ungarnländischen Wahlheimat, vollzog sich ihre Umstellung auf die neuen Verhältnisse in allen Epochen äußerst schnell. Sie bekannten sich von Anfang an als Untertanen der ungarischen Krone, und schon in wenigen Generationen verschwammen die Erinnerungsbilder an die Urheimat. Um 1800 war es bereits vollkommen irrelevant, wann und woher (aus welcher Region) die Ahnen dieses oder jenes Autors (ob im Jahre 1200 oder erst fünfhundert Jahre später) nach Ungarn zogen.

Von den abgebrochenen Beziehungen zum einstigen Mutterland blieb für die große Mehrheit nur noch die deutsche Muttersprache erhalten, in der sie ihre zunehmende Verbundenheit mit der ungarischen Heimat artikulierten. Ungarn als Zweitheimat erlebten eigentlich nur - das waren auch nicht wenige - Deutsche der letzten Umsiedlergeneration.

Die Sprache ihrer poetischen Werke war deutsch, aber der Inhalt meistens »ungarisch«. Somit entstand eine deutsche Dichtung mit unverwechselbaren inhaltstypologischen Übereinstimmungen mit der ungarischen Literatur. Die engere Heimat fanden sie wie ihre magyarischen Landsleute an der »schäumend fluthenden« oder »eisige Schollen wälzenden« Donau in Pest (Halitzky, Boros[2]), an pannonischen Berghängen mit hier und dort hochschießenden spitzen Pappeln, Mandelbäumen und rankenden Weinreben (Rösler[3]), zwischen den felsigen Spitzen der Karpaten (Bredeczky[4]), in einem geselligen Kreis einer Altpester Wohnung (Halitzky[5]), in der Pußtalandschaft »mit wildem Gewieher in Csanáds grasigen Haiden der stampfenden Rosse« (Gruber[6]) sowie im Trubel der werdenden Großstadt (Purkhardt u.a.[7]), stolz auf die Leistungen von Landsleuten wie Széchényi (Bibliothek), Festetics (Landwirtschaftsakademie), Orczy (Gartenbau), Batthyány (wissenschaftliche Studien[8]), Kisfaludy, Csokonai, Kazinczy (Schriftsteller).[9]

Die Offenheit der deutschen Intellektuellen in den ungarischen Städten für die verschiedenen in- und ausländischen geistig-kulturellen Trends vor und nach 1800 integrierte und differenzierte dieses selbstverständlich gewordene ungarische Heimatverständnis unter den modernsten Aspekten der Zeit. Die hochgradige Integration entstand einerseits durch die (oben geschilderte) zeitgenössische mitteleuropäische Erweiterung des Heimatbegriffs auf das jeweilige ganze Land, in dem man lebte, d.h. auf das Vaterland. Andererseits wurde jene aufgeklärt kosmopolitische und christlich brüderliche Weltsicht, mit der katholische und protestantische deutsche Intellektuelle in Ungarn in den achtziger Jahren in ihren Heimatstädten und/oder in Pest, Wien, Jena, Göttingen usw. erzogen wurden, vom ausgehenden 18. Jahrhundert an immer stärker vor allem auf jene Volksgruppe konzentriert, der man sich zugehörig fühlte. So waren Heimat, Volk, Nation im Begriff, in einem einzigen Brennpunkt aufzugehen.

Ungarndeutsche, deren Väter vor diesen Entwicklungen nach Ungarn kamen, erweiterten um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert die ursprünglich jeweils nur landesteilbezogenen Heimatempfindungen bereits zu Identitätsbekenntnissen zum ungarischen Vaterland. Dies fiel ihnen um so leichter, da u.a. eine überaus bedrückende wirtschaftliche Diskriminierung, durch Zollbestimmungen des österreichischen Kaisertums, die Interessen der in den verschiedensten Teilen des Königreichs beheimateten deutschen Stadtbürger viel mehr miteinander und dem ungarischen Adel verband, als etwa mit ihren Standesgenossen in Wien. Man braucht dabei nur an die beiden gleichzeitig - jedoch ganz unabhängig voneinander - entstandenen deutschsprachigen Schriften des Adligen Gregor Berzeviczy und seines zipserdeutschen Landsmanns, des Theologen Jacob Glatz, über die brutale Kolonialisierung des ungarischen Vaterlandes durch Österreich zu denken[10]. Zur Ausdehnung der Landesteil-Grenzen der jeweiligen Heimat trug freilich auch die um 1800 äußerst schnell vollzogene Zentralisierung des deutschsprachigen kulturellen Lebens in der Pest-Ofener urbanen Region bei - mit einer rasch zunehmenden Zahl von deutschen Verlegern, Buchdruckern, Buchhändlern, Zeitschriften-Redakteuren, aber auch von Herausgebern von Almanachen, Kalendern, Taschenbüchern, außerdem von Schauspielern (in drei Theatern), Dramatikern, Dichtern und manchen europaweit berühmten Universitätsprofessoren und Architekten. Ein Zentrum der deutschen Kultur und Wissenschaft entstand, zu dem die kleineren deutschen kulturellen Inseln selbst in den äußersten Randgebieten des Königreichs mit zunehmender Frequenz Brücken schlugen.

So erstreckte sich ein Netzwerk der Produzenten und Konsumenten der deutschsprachigen Literatur und Kultur, mit einem Wort des ungarndeutschen literarischen und kulturellen Lebens, auf das ganze Land. Man war fest entschlossen, alles zu unternehmen, um das Niveau dieses angehenden deutschsprachigen literarischen Lebens zu heben, eine ungarndeutsche Literatur in der Sprache Goethes zu fördern, wobei man sich als deutschsprachiges Mitglied der ungarischen Nation begriff und demzufolge ganz konsequent deutsch, u.a. vom Ausländer-Goethe schrieb, wie z.B. im Jahre 1800 der bedeutendste ungarndeutsche Literaturorganisator, Christophorus Rösler, indem er die folgenden rhetorischen Fragen stellte:

[...] Sollten wir deßwegen, weil Ungarn bis jetzt keinen Wieland, Schiller und Göthe, keinen Matthisson, Voß, Pfeffel u.s.w. besitzt, es nicht versuchen dürfen, ob wir in der Folge welche bilden können? Sollen wir nur immer ausländischeWerke bewundern?[11]

Daß er dabei an deutsche Autoren Ungarns dachte, machte er u.a. mit den folgenden Worten deutlich: »Das weitläufigte Ungarn hat unstreitig auch auf dieser Seite gute Köpfe - nur daß die meisten davon brach liegen [...]«.[12]

Es ist auch beachtenswert, daß Rösler ebenda seinen ersten deutschsprachigen lyrischen Almanach im Königreich den inländischen wie auch den auswärtigen Lesern als das neueste poetische Produkt der ungarischen Literatur vorstellte, mit dessen Patriotismus er in hohem Maße zur Förderung der »einheimischen Kultur« des ganzen Landes beigetragen zu haben meinte:

Auswärtige Rezensenten aber bitten wir um schonende Aufmerksamkeit auf das neue Ereigniß der ungrischen Literatur. Übrigens empfiehlt sich diese Anstalt und ihre Fortdauer der Unterstützung und dem Patriotismus unseres Vaterlandes, der wahrlich nie ächter sein kan [!], als wenn er zur Erhöhung einheimischer Kultur thätig ist. [13]

Die Entwicklung des Heimatverständnisses in der deutschsprachigen Bevölkerung und ihrer Poesie war um 1800 allerdings auch vielfach hochgradigen Divergenzen ausgesetzt. Der Haupttendenz nach sollten die Grenzen der Heimat, des Vaterlandes, der Nation, ja aller Völker des Königreichs und sämtliche patriotischen (auch lokalpatriotischen) Gefühle ineinander fließen. In einem Gedicht von Rösler mit dem Titel Nationalstolz ist vor allem jene bravouröse Fertigkeit zu bewundern (weniger die poetische), mit der er fähig war, alle obengenannten Begriffe (auch adjektivisch abgeleitet) in einer chaotischen Intertextualität miteinander zu verbinden, und zwar so, daß sie alle mit allen jeweils hätten ausgetauscht werden können (abgesehen freilich von den manchmal unumgänglichen prosodischen Zwängen), wie dies die folgenden Zitate aus dem Gedicht veranschaulichen:

[...] alles, was nach Form und Leben strebet,
Die Heimath ist's, für die es wächst und lebet.

[1. Strophe]

[...] was da lebt mit Kräften oder Trieben,
Die Heimath will es und die Gattung lieben.

[2. Strophe]

Und soll der Mensch dem schönen Heimaths-Boden,
Dem heimathlich befreundeten Geschlecht
Entsagen dürfen [...] ?
[...]
Soll für das vaterländ'scheWirken, Leben
Nicht schwellend sich das Herz im Busen heben?

[3. Strophe]

Die Reitze unsrer vaterländ'schenAuen
Den Werth der vaterländ'schen Nation
Soll ohne Rührung sie erkennen, schauen,
Und ohne Selbstgefühl des Landes Sohn.
[...]

[4. Strophe]

Uns gehört das Schöne und das Gute,
Das in der Heimath fruchtbar sich beweist
[...]

[5. Strophe]

[...] Heil den Patrioten, deren Stärke
Den Vätern gleich besteht durch Kraft und Werke.

[6. Strophe][14]

Nach diesem Heimatverständnis umfaßt die Heimat im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts in Raum und Zeit das ganze ungarische Vaterland. Künstlerisch unvergleichbar wirksamer als bei Rösler kommt dies in Grubers und Bredeczkys Gedichten zum Ausdruck: Die engere Heimat, der jeweilige Ort der Geburt, der Kinder- und Jugendjahre (bei Gruber in Szeged und in der Csanáder Pußtalandschaft, bei Bredeczky in den Bergen der Karpaten) erhält in ihnen einen höchst expressiven poetischen bzw. metaphorischen Stellenwert.[15] (Professor Ludwig Schedius hat in seiner Gruber-Kritik die Szeged-Darstellung des Dichters mit jedem Recht als den poetisch wirksamsten Höhepunkt des umfangreichen Gedichts gewürdigt.[16]) Der Blickwinkel öffnet sich jedoch in beiden Gedichten auf Land und Leute des ganzen Königreichs in der erlebten Gegenwart und schwenkt gleichzeitig auf Visionen seiner Vergangenheit von dem landnehmenden Fürsten Árpád bis in die Hoffnung verheißende Zukunft.

Dabei entstehen vielfache intertextuelle Beziehungen innerhalb der zeitgenössischen ungarndeutschen Poesie, sowie zwischen den ungarndeutschen poetischen Texten und denen der früh- und hochromantischen ungarischen Dichtung von Dániel Berzsenyi bis Mihály Vörösmarty (d.h. von etwa 1810 bis 1840). Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Metaphorik in den Distichen der anonym veröffentlichten ungarndeutschen Elegie an mein Vaterland aus dem Jahre 1807, wo im Mondschein der verfallenden Burgruine plötzlich eine stumme Gestalt die Hand hebt und Bilder der Vergangenheit vorführend die Söhne des Vaterlandes zu optimistischen Zukunftserwartungen ermuntert.[17] Aus patriotischen Vergangenheitsvisionen abgeleitete Textstellen eines hier leben und sterben müssen, wie sie manchen ungarndeutschen Gedichten aus der Zeit zwischen 1804 und 1807 zu entnehmen sind,[18] dürften wohl allen Ungarn spätestens seit der Veröffentlichung des berühmten Vörösmarty-Gedichtes Szózat im Jahre 1837 bekannt sein.[19] Auch die vielen metaphorischen Brüche zwischen plötzlich einschneidenden antonymischen Textstellen mit dem glanzvollen Ruhm der Ahnen in der Vergangenheit einerseits und der in Finsternis verfallenen Gegenwart mit den schwächeren Enkeln andererseits, wie sie an mehreren Stellen der Gruberschen Poesie vorzufinden sind, korrespondieren eindeutig mit einer ganzen Reihe von lyrischen und epischen Texten der ungarischen Romantik. Das Gebot Ungarns Europa zu schützen[20], Preislieder auf den ruhmreichen Tod,[21] die Heraufbeschwörung der fatalen Uneinigkeiten und Parteikämpfe mit ihrer verheerenden Wirkung sind bereits seit dem ausgehenden Mittelalter immer wieder Themen der Literaturen des Königreichs gewesen.

Es gibt selbstverständlich auch reichlich Abweichungen von diesen alles einebnenden Einheitstendenzen des in der ungarischen Geschichtsschreibung als Hungarusbewußtsein apostrophierten Phänomens. Gewiß ist es dabei unerheblich, daß die Deutschen in ihren poetischen Vergangenheitsbildern die Akzente weniger auf die Landnahme, dagegen vielmehr auf die Könige Stephan und Matthias setzten als die ungarischen Dichter. Die Abweichung von der magyarischen Norm ist wesentlich größer, wo der Heimat- und Vaterlandsbegriff auf eine Kette von Heimaten, Völkern bzw. Nationalitäten auffächert. Der Dichter Dorion sieht z.B. in den von einander höchst abweichenden besten Eigenheiten der Ungarn, der Deutschen, der Slawen, der Illyrer sowie der Wallachen, wie es bei ihm heißt: den »stattlichsten fünf Granitsäulen«, die Garantie für das Gedeihen der Heimat, des pannonischen »Vielvölkerkönigreichs«.[22] Auch Schedius hatte in allen seinen Programmen stets alle Nationalitäten des Königreichs vor Augen, wenn er z.B. in seinem Literärischen Anzeiger eingangs alle »in Ungern [im weitesten Sinne, d.h. Siebenbürgen, Kroatien, Slawonien miteingeschlossen] erscheinenden Schriften« in sein Blickfeld zu ziehen beabsichtigte.[23]

Tatsächlich war die Offenheit für das jeweilige andere in der gemeinsamen pannonischen Heimat - falls dies überhaupt bewußt geworden ist - um 1800 im allgemeinen noch ganz selbstverständlich. Franz Xavier Girzik z.B., ein Tscheche aus Prag, Schauspieler in den Städten des ungarischen Königreichs, schrieb in Pest dem ungarndeutschen Publikum ein deutsches Erfolgsdrama von dem ungarischen König Stephan und widmete es »der edlen Nation der Hungarn in Unterthänigkeit«.[24] So einfach ging man damals noch in der ganzen Region mit dem Heimat-, Vaterlands- und nationalen Bewußtsein um. Niemand, auch kein Ungar, ließ sich dabei davon irritieren, daß nach der dramatischen Bearbeitung des historischen Themas durch Girzik der Árpáde Stephan mit seinen barbarischen Magyaren seinen historischen Auftrag nie hätte realisieren können, wenn nicht wackre Deutsche an seiner Seite gestanden hätten.

Beispielen für mangelnde Beziehungen zwischen ungarnländischen Heimat- und Vaterlandsempfindungen begegnet man um 1800 vor allem in den westungarischen Landesteilen. Die Frage laß' ich hypothetisch offen, ob dies (auch oder nur) dem zu verdanken sei, daß in diesen Regionen eigentlich keine richtigen Grenzen mehr zwischen den deutschen Nationalitäten in Ungarn und dem zusammenhängenden deutschen Sprachraum in Mitteleuropa gezogen werden konnten, mit anderen Worten, daß die deutschsprachige Kultur Ungarns hier nicht wie sonst auf isolierten Sprachinseln sich entwickelte. Daß für Wiener Erlebnisse die Dichtung des Preßburger Karl Daniel Nitsch offener war als die der Pester Dichter, muß wohl selbstverständlich sein. Aber von den damals im In- und Ausland berühmtesten zwei ungarndeutschen Gedichtbänden aus dem Jahre 1800, erschienen unter dem vielversprechenden Titel Feldblumen auf Ungarns Fluren gesammlet, von den Dichterinnen Theresia Artner und Marianne Tiell, hätten schon wenigstens manche ungarische Heimatbilder - und bei der zeitgenössischen Erweiterung des Heimatbegriffs sogar auch ungarische Vaterlandsvorstellungen - erwartet werden dürfen, wenn auch die beiden Dichterinnen der westungarischen Region Neutra-Preßburg-Ödenburg zugehörten. Die Gedichte der beiden Bände reflektieren dagegen von Land und Heimat überhaupt nichts. Auf Ungarn weisen nur der exotisch anmutende Titel und das Vorwort, wonach mit den Gedichten lediglich dem kulturell zurückgebliebenen Vaterlande hätten Dienste erwiesen werden sollen: »[...] in unserem Vaterlande sind poetische Originalwerke noch so selten« - so steht es hier - »[...] daß Anfangs auch unvollkommene Versuche nützlich seyn können.« In der Fortsetzung wird es allerdings deutlich, daß die Autorinnen mit der Berufung auf Ungarn, wie auch auf ihre weibliche Verfasserschaft, in erster Linie nur das verständnisvolle Wohlwollen der Kritiker zu erheischen beabsichtigten: »Sollten sich Sprachfehler und Provincialismen finden, so bitten wir es mit unserm Geschlecht und Vaterland [...] zu entschuldigen.«[25] Ihre Poesie beweist, nichts ist ihnen fremder als diese Heimat, diese Provinz, dieses Vaterland. Beziehungen zu den Fluren des damaligen Ungarns schimmern lediglich in einem einzigen Gedicht, in An die Waag bey P., durch. Das Wort Heimat erscheint in diesen Gedichten vor allem in religiösem Kontext (z.B. als Heimath der Seele [26]) und das Wort Vaterland nur mit dem politischen und patriotischen Engagement für »Austria«, »Kaiserfahn«, »Teutschlands Stärke« und »Fürstenbund« und jeweils mit der Hoffnung verbunden, daß die »rächende Axt [...] schon den Freiheitsbaum fällt«[27]. Auch Vergangenheitsbilder beziehen sich nirgends auf die ungarische Geschichte, etwa auf Árpád, St. Stephan, Matthias, dagegen wiederholt auf »den blutigen Kampf Herrmanns«[28] sowie auf Stoffe des deutschen Hochmittelalters,[29] jeweils das deutsche Vaterlandsbewußtsein artikulierend. Von dem als provinziell erachteten heimatbezogenen Patriotismus ihrer ungarischen Landsleute haben sich Theresia Artner und Marianne Tiell mit ironischen Worten distanziert: »Unsere Landleute denken sehr patriotisch« - schrieben sie - »vielleicht reitzt sie eine Schalmey auf vaterländischer Flur eher zur Nachahmung, als die kunstreiche Flöte, die ihnen aus fremder Fremde verhallend herüber tönt.« [30]

Man versteht eigentlich nicht, warum der Literaturwissenschaftler Ludwig Schedius und der Literaturorganisator Christophorus Rösler so erpicht waren, die beiden Dichterinnen für ihre ungarndeutschen Almanachprogramme zu gewinnen. Vielleicht, weil »die kunstreiche Flöte [...] aus fremder Ferne«, d.h. die künstlerische Machart und Attitüde der gängigen Dichtung in Deutschland, tatsächlich niemand im Königreich so sprachgewandt nachahmen konnte wie gerade sie.

Für Theresia Artner und Marianne Tiell war somit Ungarn weder die Heimat noch die Fremde. Daß sie dort lebten, war für sie eine Art Selbstverständlichkeit - auf diese Weise war ihnen Ungern eigentlich nie fremd. Da sie zu dieser Umwelt, dem jeweiligen Ort, den dort lebenden Menschen und ihrer Denkungsart keinerlei Beziehungen entwickelten, wenigstens solche in ihrer Dichtung nie reflektierten, wurde diese ihre Umwelt für sie auch nie die eigentliche Heimat im engeren und weiteren Sinne des Wortes.

Ganz anders als die westungarischen Dichterinnen wichen jene Deutschen von der allgemeinen Hungarus-Einstellung ab, die zu der letzten Umsiedler-Generation gehörend erst um 1800 im Königreich ihre Heimat zu finden versuchten. Die Norm dieser Deutschen war nicht (oder nur selten) das Weder-Noch der Theresia Artner, sondern ganz im Gegenteil eher das recht komplizierte, oft sogar von Identitätsstörungen belastete Sowohl-Als auch: Ungarn war für sie noch fremd, gleichzeitig sollte es aber auch bereits die neue, die Zweitheimat sein.

Stellvertretend für alle deutschen Neusiedler gedenken wir hier des zweifelsohne bedeutendsten Ofner Dichters, des 1786 in Nürnberg geborenen Johann Paul Köffinger, der seine medizinischen Studien in Pest nach der Jahrhundertwende beendete und sich anschließend in Ofen für sein ganzes Leben niederließ. Laut seiner Poesie schien für ihn offensichtlich der Zwiespalt zwischen Urheimat und Wahlheimat das große Dilemma gewesen zu sein. Und trotzdem oder gerade darum schrieb damals außer ihm niemand so oft in seiner Lyrik das Wort Heimat nieder wie er. Und wie nur bei ganz wenigen verflechten sich in seinen Gedichten die Metaphern allgemeiner poetischer Naturkulissen mit ortsgebundenen Umwelt-Requisiten der tatsächlich erlebten Budaer Heimat, mit dem Blick vom Schloßberg auf die niederen Hügel, die Rebenhöhen, die Weingärten, auf die Donau, mit der Darstellung eines Sturmes über dem Schwabenberg oder der einsamen Ruhe im Auwinkel. Und doch überzieht diese Bilder immer eine traurige Stimmung. »Rückwärts flieht mein Blick«[31] - schrieb er in einem Gedicht, die poetische Attitüde auch der meisten übrigen vermittelnd. Wohl befindet man sich in Buda, wenn er an einer anderen Stelle eine Strophe mit den Worten anhebt: »Einsam steh ich hier auf diesem Hügel« und dann später die Frage offen schweben läßt: »Ach, was soll, was kann ich hier beginnen?«[32] Der Pilger, der (von Schillers 1805 entstandenem Pilgrim an) zu einer Modefigur der deutschen romantischen Triviallyrik wurde, erhielt bei Köffinger (trotz des unverkennbaren, sogar rhythmisch-melodischen Hangs zu dem Schillerschen Urbild) wenigstens am Anfang des Gedichtes eine ganz persönliche Note, indem er ausschließlich von seinem individuell erlebten Dilemma folgende Worte niederschrieb:

Aus der Heimat stillen Fluren
Trieb mich feindlich das Geschick,
Fern zu suchen eure Spuren,
Seelenruh' und Herzensglück.

In dem Labyrinth des Lebens
Irrt' ich Fremdling bang umher,
Den Leitfaden stets vergebens
Suchend ein Verlassener.[33]

Die in höchstem Maße ichbezogene Funktion des »Pseudo«-Pilgerwortes Fremdling - und damit des ganzen Gedichtes - belegt die intertextuelle Beziehung zu einer anderen lyrischen Erklärung des Verfassers mit der Überschrift Der Fremdling aus dem gleichen Jahr.[34] Verfremdete Gefühle zur Zweitheimat vermittelt dabei das ganze poetische Instrumentarium dieses Gedichtes, wenn der Dichter darin z.B. behauptet, er sei hierher gekommen »in dieses dunkle Thal«, und besonders wenn das darauf antwortende Reimwort »Quaal«, die negative lyrische Attitüde, den Adressaten noch unmißverständlicher nachempfinden läßt. Nur der Anfang, die ersten Jahre, durfte nach diesem Gedicht vielverheißend gewesen sein:

[...]
Es sprach mich anfangs alles
Mit heitern Mienen an;
Geräusch des Wasserfalles
Und grüner Wiesenplan.

Der Hügel frisch mit Reben,
Der Berg mit Wald gekrönt;
Und überall war Leben,
Vom schönen Lenz versöhnt.
[...]

Doch der Ausklang vermittelt mit der düsteren Stimmung die vollkommene »Leere«, die Entfremdung von jener »öden« Region, wo er leben muß, sowie infolge der unerfüllbaren Sehnsucht, die Geste unentschieden schwebender Unschlüssigkeit:

[...]
Auch ward in meiner Sphäre
So manches mir bewußt,
Das eine kalte Leere
Zurückließ in der Brust.

Der Heimath lieben Fluren,
Ihr, die ich nie gekannt,
Nun such ich eure Spuren
In diesem öden Land.

In jene blaue Ferne
Schau' ich so sehnsuchtsvoll:
O sagt mir liebe Sterne!
Wohin, wohin ich soll?

Die Erweiterung des Begriffs Heimat auf Vaterland ist für Köffinger untypisch. Wenn es dazu manche Ansätze gibt, so geschieht dies vor allem in den frühen Gedichten, in denen er mit seinem damals noch deutlich artikulierten deutschen Nationalgefühl den Grundschemata der ungarndeutschen Dichtung widerspricht, so z.B. wenn er in einem Gedicht an Klopstock erinnert:

Stolzer pochte mein deutsches Herz
Als die stürzenden Bardengesänge
Der Herrmanschlacht in mein Ohr
Rauschten mit Donnergetön.[35]

Um so auffallender ist nur wenige Jahre später die plötzliche Hinwendung zur ungarischen Vergangenheit, zu den Heroen der ungarischen Geschichte, wie z.B. János Hunyadi, Miklós Zrínyi.[36] Und wenn dabei die Authentizität in der Stellungnahme des Ofner Dichters auch fragwürdig sein mag, so kommt er mit dieser Wende in seiner nationalen Sichtweise nun gewiß allgemeiner ungarndeutscher Nachfrage entgegen. Denn darauf kommt es nun an: Deutsch lesende Ungarn kann man anscheinend nur mit solchen Gedichten gegen die Franzosen mobilisieren, in denen nicht an das deutsche, sondern an das ungarndeutsche Nationalbewußtsein appelliert wird.

Somit schienen im Pest-Ofner literarischen Leben für die typischen ungarischen Aspekte in den deutschsprachigen Gedichten diesmal vor allem die deutschen Leser, das heißt die eigentlichen Adressaten, und weniger der deutschsprachige Absender, der Dichter Johann Paul Köffinger verantwortlich gewesen zu sein. Man kann also auf diese Weise im lyrischen Aspektwechsel des Dichters einen sonst selten so deutlichen Beweis für die Rolle des Konsumenten bei der Entstehung von lyrischen Produkten sehen.

Daß eher der Zwiespalt zwischen den beiden Heimaten als irgendein nationales Ahnen-Bewußtsein mit Hermann und/oder Hunyadi dem Dichter Köffinger naheging, beweist seine allseitige ablehnende Haltung im folgenden Distichon: »Wenn ihr o Völker! der Ahnen Tugenden prahlerisch anstaunt: Denk' ich: man staunet nur an das, was man selber nicht ist.«[37]

Für Köffinger war Ungarn um 1800 gewiß nicht fremd, noch weniger die Fremde, es war sein neues Zuhause, seine neue Heimat, die Wahlheimat. Aber wo und wann überschreitet man die Grenze zwischen Fremde und Heimat? Vielleicht dort, wo etwa die vielfach variierten Wörterbuch-Paradigmen wie z.B. »Ich muß/soll mir eine neue Heimat suchen/finden« enden. Dann allerdings müssen auch mißlungene Versuche zu unserem Forschungsgegenstand gehören.

Für den in Wien gebürtigen Schriftsteller Leopold Aloys Hoffmann, den ersten Lehrstuhlinhaber der Pester Germanistik, war die Ofner und Pester Stadtregion beinahe ein Jahrzehnt lang das eigentliche Zuhause, die Heimat. Er unternahm auch alles, um vom ungarischen Adel, den Pester Stadtbürgern und den Kollegen wie Schwartner, Schedius, Anton Kreil u.a. geachtet und aufgenommen zu werden. Er brachte es sogar bis zu leitenden Positionen in den Pester Freimaurerlogen. Und doch scheiterte er, vielleicht, weil er ein Ungarn nach seinem Bilde hätte schaffen wollen und dabei nicht im geringsten bereit zu sein schien, jenem Umfeld, das er zu seiner Heimat wählte, seinerseits die geringsten Zugeständnisse zu machen, so etwa wenigstens, wie dies u.a. Köffinger 1809 mit seinen patriotischen Ungarnliedern tat. Wenn aber Hoffmann letzten Endes nach einem knappen Jahrzehnt Ungarn, die Wahlheimat, verlassen zu müssen glaubte, so gehören auch seine leidenschaftlichen Worte gegen Land und Leute sowie Sitten und Bräuche des Königreichs ebenfalls in die Kategorie von Heimatbildern. Die folgenden bitteren Worte hätte um 1790 gewiß auch ein mit den damaligen politischen Verhältnissen des Landes unzufriedener ungarischer Intellektueller in Ofen oder Pest niederschreiben können:

Der Dorfedelmann und die meisten Komitatsbeamten halten ihr Corpus juris in dem Maaße für das beste und unfehlbarste auf Erden, wie ihren Speck und ihr Rindfleisch für das schmackhafteste in Europa. Unser Land hat alles, sagen sie, was wir brauchen und nicht brauchen. Fremde Wissenschaft ist uns so überflüssig wie der Eintrieb fremder Schweine. Es macht in den Augen und Nasen seiner meisten Nationalen jedem Edelmann und Bürgerlichen einen bösen Geruch, wenn er überwiesen wird, daß er im Auslande gereiset ist, und etwa dort etwas nützliches gelernt hat. Im Lande soll er bleiben, sagen sie, wir haben und wissen doch alles, was wir bedürfen, und die Fremden sollen ihre Wissenschaft und ihr magres Rindfleisch nur für sich behalten, denn unsre Hammel und Kälber sind doch fetter als die ihrigen. [...] Soll man es wohl gelinder als die tiefste Unwissenheit nennen, daß man sich in Ungarn mit den aufgeklärtesten Nationen der Welt messen will! - Ein Dorfedelmann in Ungarn weiß kaum so viel, als ein Faßzieher in Paris. Ein englisches Parlament gegen eine ungarische Komitatskongregation macht einen Abstand, wie der Senat des alten Roms gegen eine heutige kosakische Dorfschenke.[38]

Ob es um ein Heimatbild oder ein Bild von der Fremde geht, entscheidet gewiß nicht, ob Liebe, Zweifel oder Haß das jeweilige persönliche Verhältnis motiviert.

Die angeführten Beispiele machen allerdings deutlich, daß eine Entscheidung ausschließlich nach dem jeweiligen Geburts- und Jugendort - so bedeutend dies für das Heimaterlebnis im engeren oder weiteren Sinne des Wortes auch sein könnte - nicht unbedingt zu restlos befriedigenden Schlüssen führt. Gruber und Bredeczky, in Szeged und in der Zips geboren und aufgewachsen, hatten die Heimat in Ungarn. Für Theresia Artner (in Neutra geboren und in Ödenburg aufgewachsen) schien Ungarn immer fremd geblieben zu sein. Köffinger dagegen, in Nürnberg geboren, fand schließlich in Ofen seine Heimat, der in Wien geborene Hoffmann dagegen suchte nur in Pest seine Heimat.

In Zweifelsfällen dürfte man der Frage, ob das jeweilige deutschsprachige Ungarnbild, diesmal um 1800, ein Heimatbild oder ein Bild von einer fremden Welt sei, mit Hilfe eines Rasters der unter fremden Aspekten entstandenen deutschen Ungarnschemata näher kommen können. Der Katalog des stereotypen Ungarnimage unter Deutschen ist um 1800, wie auch heute, oft bis auf das Mittelalter zurückreichend in seinen Grundzügen stets unverändert: Schöne Frauen (von Walther bis zum Piroschka-Film), heroische Männer (von den Türkenkriegen bis 1956), fruchtbarer Boden, veranlagte Menschen, jedoch beide, Boden und Menschen, unkultiviert, roh, verwildert, ohne Ordnungsliebe, der Hilfe der hochentwickelten deutschen Kultur bedürftig (von der cluniazensischen Mission über das allgemeine »Europäisieren-und-Humanisieren-Wollen« der Magyaren, wie sich dafür u.a. Friedrich Schlegel, Ernst Moritz Arndt und - wenngleich mit anderen Worten - auch Goethe einsetzte, bis zu manchen ZDF-Sendungen, Zeit-Artikeln und dem Aufgabenkatalog der Goethe-Institute).[39]

Wird das jeweilige Ungarnbild ausschließlich oder überwiegend von diesen oder ähnlichen fremden Ungarnschemata bestimmt, so geht es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um Heimatbilder, sondern um Bilder, die unter ungarnfremden Aspekten erstellt, bei allen möglichen positiven und/oder negativen Akzentverschiebungen im Grunde genommen immer unverändert bleiben, wie dies für jede stereotype Anschauung auch immer charakteristisch ist. Das Fremdenimage erlebt nämlich meistens gar keine oder höchstens nur kurzlebige und jeweils unbedeutende Innovationen durch den Gegenstand selbst. Man sieht, was man im voraus weiß, was man sehen will, was auch immer das im voraus Vorgestellte bestätigt.

Derjenige Deutsche, der in Ungarn seine Heimat seit Generationen hat oder neuerdings sucht, findet, erlebt, der verändert, entwickelt, erneuert seine subjektiv und individuell erstellten Beziehungen zu seiner Umwelt, dem für ihn höchst naheliegenden Objekt, in einem ununterbrochenen Prozeß und berichtet auf diese Weise eigentlich nicht nur über ein fremdes Land, sondern liefert mit seinen kontinuierlich innovativen Vorstellungen darüber jeweils auch Beiträge zum eigenen Porträt.

Ein aufgebrachter deutschsprachiger Magyare empörte sich im Jahre 1803 über das zeitgenössische Ungarnimage der fremden Deutschen im Neuen Teutschen Merkur mit den folgenden Worten:

Mein mehrjähriger Aufenthalt in Teutschland ließ mich es erfahren, daß auch manche Männer mit sonst geläuterten Einsichten [...] höchst einseitige, abgeschmackte Begriffe von Ungarn und dessen Bewohnern hegen. Man denkt sich den Boden und das Klima dieses Landes als ein Analogon vom Schlaraffenlande, und weist dem Magyar seinen Standpunkt in der Völkerordnung dicht neben dem Türken und Kosaken an. [...] Die Reisenden, [...] welche unser Land mit ihrem Herein- und Durchfliegen beehren [...], suchen Naturalien, Seltenheiten, Anekdoten und dergleichen zusammen [...] Alle Reisebeschreibungen von Ungarn sind unzuverlässig und die meisten nichts als kümmerlich zusammengelesene Aggregate von theils falschen und schiefen theils unbedeutende Kleinigkeiten.[40]

Die sachlich besonnenen Erwägungen des ungarndeutschen Johann Ludwig Schedius über das Ungarnbild der Deutschen, der neben dem Ungarn Ferenc Kazinczy gewiß der bedeutendste geistige Vertreter des damaligen Königreichs war, verwiesen dagegen auch auf die mögliche einheimische Wirkung des jeweiligen fremden Ungarn-Images:

[...] Selbst der benachbarte, emsige jeden Beytrag zur Erweiterung seiner Kenntnisse so gern aufnehmende Deutsche [...] lernte [in Ungarn; L. T.] die Anstalten zur Aufnahme intellectueller und moralischer Cultur [...] nur höchst unvollkommen kennen [...] daher die Ungereimtheiten, welche von Fremden[...] theils nach dem Hörensagen, theils nach den Erzählungen flüchtiger oder hypochondrischer Reisebeschreiber, theils nach den einseitigen Berichten anonymer Einsender, uns sehr häufig aufgebürdet werden; daher die so ziemlich allgemein verbreitete Meinung von diesem Reiche, als ob es noch in tiefer Barbarey und Unwissenheit läge; daher die Verachtung und Vernachlässigung unserereinheimischenLiteratur, die sich selbst viele Inländer, welche durch die Brille ausländischer Urtheile ihr Vaterland betrachten, zu Schulden kommen lassen. [41]

Die Botschaft des Ungarndeutschen Schedius an seine Landsleute im Jahre 1802 heißt demnach, vor dieser Brille des Fremden möge sich wenigstens der schonen, der seine Heimat in Ungarn hat, sucht oder findet.

Fußnoten

[1] Martin Schwartner: Statistik des Königreichs Ungern. Erster Theil. Erste Aufl. 1798. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. Ofen, gedruckt mit königl. Universitäts-Schriften 1809. S. 129.
[2] Andreas Friedrich Halitzky: Epistel an Ign. Frölich, Pest d. 1. Mai. 1795. In: Musen-Almanach von und für Ungern auf das Jahr 1804. Pest: Verlag bei Konrad Adolph Hartleben (1803). S. 33 f.
Franz von Boros: Wie war mir da! In: Ungrische Miscellen. 1805. H. 3. S. 92 f.
[3] Christophorus Rösler: Der Weinberg bey Acsa. In: Musen-Almanach [...] 1804, a.a.O., S. 57 f.
[4] Samuel Bredeczky: Vaterland. In: Musenalmanach von und für Ungarn auf das Jahr 1801. Herausgegeben von Christ. Rösler. Preßburg: Schauffischer Verlag (1800). S. 15-17.
[5] Siehe Anm. Nr. 2.
[6] Carl Anton von Gruber: Hymnus an Pannonia. Wien: A. Pichler 1804. S. 29.
[7] Die Tageszeiten in mahlerischen Scenen-Darstellungen. Geschildert v. Chr. Rösler u. Norb. Purkhart. Ofen 1805. 64 S.
[8] Siehe z. B.: R.: Den edelsten der Ungarn. Dem Grafen Franz Széchényi. Dem Grafen Georg Festetits, Stifter des Georgicons zu Keszthely. Graf Vinc. Batthyány. - In: Musen-Almanach [...] 1804. S 43-48. u. S. 75 f.
[9] Siehe dazu u. a. die insgesamt etwa 400 Seiten umfassenden Korrespondenznachrichten über die Literatur und Kultur im Königreich Ungarn im Neuen Teutschen Merkur von 1802 bis 1808. Vgl. dazu L. T.: Der Neue Teutsche Merkur als Quelle historisch-hungarologischer Untersuchungen für den Zeitraum 1802-1808. In: Berliner Beiträge zur Hungarologie. Bd. l. Berlin 1986. S. 123-151.
[10] Gregor Berzeviczy: Ungarns Industrie und Commerz. - In: Neue Zeitung für Kaufleute, Fabrikanten und Manufakturisten. Hrsg. v. J. A. Hildt. Weimar 1802. Nr. 19-29.
[Jacob Glatz:] Freymüthige Bemerkungen eines Ungars über sein Vaterland. Teutschland 1799. 348 S.
[11] Christophorus Rösler: Vorrede. In: Musenalmanach [...] 1801. S. 2. [Hervorhebung durch den Verf.; Anm.]
[12] Ebda. S. 5
[13] Ebda. S. 7. [Hervorhebungen durch den Verf.; Anm.]
[14] Ch. Rösler: Nationalstolz. In: Zeitung für Herren und Damen. Pest 1807. Nr. 18. S. 141. [Hervorhebungen durch den Verf.; Anm.]
[15] Samuel Bredeczky: Vaterland. In: Musenalmanach [...] 1801. a.a.O. S. 15-17.
Carl Anton von Gruber: Hymnus an Pannonia, a.a.O. S. 39 f.
[16] Rezension über den Hymnus an Pallas Athene und den Hymnus an Pannonia. In: Zeitschrift von und für Ungern zur Beförderung der vaterländischen Geschichte, Erdkunde und Literatur von Ludwig Schedius. 1804. Bd. 6. H. 4. S. 258.
[17] Elegie an mein Vaterland. In den Ruinen eines alten Bergschlosses geschrieben. Pannonien 1807. 24 S. - Vgl. damit die beiden Fassungen des ungarischen Gedichtes Huszt von Ferenc Kölcsey.
[18] Rösler: Nationalstolz, siehe Anm. Nr. 14; und Gruber: Hymnus an Pannonia, a.a.O. S. 43.
[19] Deutsche Nachdichtungen von 1842 bis zur Gegenwart. Zuruf, Aufruf, Mahnruf etc. bibliographisch verzeichnet in: Vörösmarty Mihály: Kisebb költemények [Kleinere Gedichte]. Bd. 2. Budapest: Akadémiai Kiadó 1960. S. 641-643.
[20] Johann Paul Köffinger: Lied der Edlen. In: J.P.K.: Lieder für Ungerns Bewaffnete. Panonien [!] 1809. S. 5.
[21] Johann Karl Unger: Hans Körmend oder die Weihe für das Vaterland. In: Musen-Almanach von und für Ungarn auf das Jahr 1808. Hrsg. v. Karl Georg Rumi. Leutschau 1808. S. 17-21.
[22] D. C. Dorion: Pannonia. Eine Ode am Altare des Vaterlandes. Pesth: Trattner 1811. 10 S.
[23] Johann Ludwig Schedius: Vorbericht. In: Literärischer Anzeiger für Ungern. Erster Jahrgang 1798. Erstes halbes Jahr. Pest. Nr. 1. S. 9-12.
[24] Stephann [!] der erste König der Hungarn. Ein Schauspiel in sechs Aufzügen von [Franz] Xavier Girzik, Mitglied der hochgräflichen Unwerth'schen deutschen Operngesellschaft in Ofen und Pest. Pest 1792 [2. Aufl. 1803] Druck Johann Michael Landerer. 184 S.
[25] Theresia Artner und Marianne Tiell: Vorbericht. In: Feldblumen auf Ungarns Fluren gesammlet von Nina (Marianne Tiell) und Theone (Theresia Artner). Bd. l. Jena: J. G. Voigt 1800. S. V-XII.
[26] Theresia Artner: Heimath der Seele. Ebda. Bd. 2. S. 146 f.
[27] Theresia Artner: Die Schlacht bey Maynz am 19ten October 1795. Ebda. Bd. 1. S. 113-119.
[28] Ebda.
[29] Theresia Artner: Der arme Franz. Ebda. Bd. 2. S. 126-145.
[30] Siehe Anm. Nr. 25.
[31] Johann Paul Köffinger: Die Erinnerung. In: J.P.K.: Gedichte. Pesth: Matthias Trattner 1807. S. 40-42.
[32] Johann Paul Köffinger: Beim Eintritt in die Welt. Ebda. S. 17-22.
[33] Johann Paul Köffinger: Der Pilger. Ebda. S. 52 f. [Hervorhebung durch den Verf.; Anm.]
[34] Johann Paul Köffinger: Der Fremdling. In: Zeitung für Herren und Damen. Pest 1807. Nr. 15. S. 115 f. [Hervorhebungen durch den Verf.; Anm.]
[35] Johann Paul Köffinger: Bei Klopstocks Bildniß. In: J.P.K.: Gedichte, a.a.O. S. 47-49. [Hervorhebung durch den Verf.; Anm.]
[36] Johann Paul Köffinger: Lieder für Ungarns Bewaffnete, a.a.O. 16 S.
[37] Johann Paul Köffinger: Wider den Nationalstolz. In: J.P.K.: Gedichte, a.a.O. S. 121.
[38] [Leopold Aloys Hoffmann]: Ninive. Fortgesetzte Fragmente über die dermaligen politischen Angelegenheiten in Ungarn. o.O. 1790. S. 12-14.
[39] Siehe dazu L. T.: Deutschsprachige Ungarnbilder um 1800. In: Das Ungarnbild in Deutschland und das Deutschlandbild in Ungarn. München, Südosteuropa-Gesellschaft 1996. S.31-45.
[40] In: Der Neue Teutsche Merkur 1803. H. 10. S. 434 ff.
[41] In: Zeitschrift von und für Ungarn. Bd. 1. H. 1. 1802. S. 8 f. [Hervorhebungen durch den Verf.; Anm.]



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