PALIMPSZESZT
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Edit KIRÁLY
»[...] und die Fenster sind überall dunkel [...]« -- Wege in Wien und Budapest


Daß die Fenster in Budapest (zwischen halb zwei und zwei Uhr in der Nacht) überall dunkel sind, habe ich aus einem Péter-Nádas-Text erfahren. Diese Feststellung hätte mich gewiß wenig beunruhigt, hätte ich nicht kurz vorher den Roman Die erleuchteten Fenster des Amtsrates Julius Zihal von Doderer gelesen. Von einer wirklichen Unruhe zu sprechen, wäre freilich übertrieben. Immerhin warfen des Amtsrates Fenster Licht auf meine ungarische Lektüre der dunkelnden Kazinczy utca. Mir dämmerte schon, daß Städte, die man kennt, sehr viel mehr aus Texten gebildet sind als aus Gebäuden, und daß diese Gebilde weniger aus den Gegenständen entstehen als aus deren »Beleuchtung«. Gerade ihr Gegeneinanderhalten macht sie transparent. Und was anderes könnte auch der Sinn eines komparatistischen Versuches sein?

Ich möchte deshalb im folgenden darüber sprechen, wie Identität, Identitätsentwürfe einen Raum besetzen, ja, in gewisser Hinsicht einen Ort als Raum erst erschaffen.[1]

Da poetische Räume in diesem Falle die Namen konkreter Lokalitäten tragen, steuern sie zugleich nicht unerheblich zu deren »Semantisierung« und zu ihrer kultischen Dienstbarmachung bei.[2]

In der Konstruktion solcher Räume spielt u.a. auch der Topos des Weges und damit ein topographisches Muster der Identitätsnarration eine Rolle. Daher geht es in meiner Ausführung um Topos und Topographie, also kurz darum, wie Wege der Identitätssuche sich in die Gegenden zweier ganz realer Städte hineinschlängeln.

Ich habe deshalb zwei Texte/Textstellen von zwei Autoren ausgewählt, die - auf sehr unterschiedliche Art und Weise - den Topos des Weges variieren.

Was die Chancen einer Parallele betrifft: die Topographie ist im Falle Doderer bzw. Nádas von vornherein sehr kontrastreich angelegt.

Vor allem möchte ich vorausschicken, daß die beiden Autoren, die hier (für die Dauer eines Vortrags) zusammengeführt werden, kaum unterschiedlicher sein könnten. Außer dem Hang zu dicken Büchern und ihrer Position außerhalb des modernen bzw. postmodernen Kanons gibt es kaum etwas, was sie miteinander verbinden würde, und bei diesem Unterschied des Habitus, der Art und auch der ästhetischen Ambition erscheint selbst eine Liste vergleichbarer Stichwörter (wie Stadt, Erinnerung, Identität) nicht mehr als bloßer Zufall zu sein.

Tatsächlich spielt Wien eine andere Rolle im Werk Doderers als Budapest in dem von Nádas.

Es ist nicht nur Schauplatz der Handlung oder Milieu, sondern ein bedeutungsbeladener Raum mit mythischen Verdichtungen und Brüchen, was Doderer auch die Reputation des Wiener Autors par excellence eingebracht hat. In einer Art Eigenleben der Fiktionen tragen seine Texte zu einem auratischen Bild Wiens (bzw. gewisser Wiener Bezirke) bei.

Im Gegensatz dazu gehört Péter Nádas nicht zu jenen ungarischen Autoren, die für Budapester »Stimmungen« maßgeblich verantwortlich gemacht werden können (wie Lengyel Péter oder Mándy etwa), zumal die Stadt in seinem Werk kaum sichtbar wird.

In seiner Prosa ist Budapest kaum als Panorama, selten als ganzheitliches Gebilde, zumeist einfach als Bruchstück und Skizze präsent. Die Stadt entsteht hier aus Stimmen, Stimmlagen, Details, Floskeln und Gesten. Gewisse Zusammenhänge verbinden die Hauptpersonen mit den Gegenständen im Raum und überschneiden damit die Grenze zwischen Figur und Hintergrund. Diese Technik erschafft den Raum als ein Verweissystem und, indem jede Einzelheit zu einer Geste wird, macht sie ihn zu einem dramatischen Ort. »Ein toller Hut!« - sagt der mit schaukelnden Schritten entgegenkommende Bekannte bei einem Rendezvous, und von seiner schwebenden Tonlage hebt sich der Hut des Wartenden in die Luft in einem Text, der den Titel Tatortbesichtigung trägt. Der Wartende bringt dieses »Schweben« sofort mit drei auf der Bushaltestelle sich abspielenden Ereignissen in Verbindung.

So werden durch eine einfache Kette der Übertragung Orte bei Nádas zu topographischen Modellen der Psyche.

Anders bei Doderer. Das wohl berühmteste Beispiel in seinem Werk dafür, wie ein Ort in einen Identitätsdiskurs einbezogen wird, ist Die Strudlhofstiege bzw. der gleichnamige Ort in Wien.

Damit paßt die Stiege in eine lange Reihe von Werken, die den Versuch unternehmen, an Stelle des ganzen »zusammengebastelte/n/ biographische/n/ Mosaik/s/« [3] eine kohärente Biographie zu setzen.

Der »Wunsch nach Identität« wird hier mit der Fähigkeit eines vollkommenen Gedächtnisses verknüpft und durch die Gattung der Biographie »metaphorisiert«. Diese ist damit ein Werk der Reflexion, seine Regeln poetische Prinzipien. Identität ist nicht etwas vorhandenes, nicht etwas zu erkämpfendes, sondern eine Besinnung, eine innere Anschauung. Sie bedarf »keiner Epochen und Entschlüsse« [4], transzendiert die Begebenheiten eines jeden konkreten Lebensweges und hat den Charakter eines Kunstwerks. Von den vielen möglichen Zusammenhängen zwischen Stiege und Identitätsfindung möchte ich nur einen hervorheben. Nämlich daß die Eigenschaften letzterer z. T. von denen der Stiege abgeleitet werden. Dabei fungiert die Strudlhofstiege selbst wie ein mnemotechnisches Hilfsmittel, wenn an ihr die poetischen Prinzipien einer wohlgeformten Biographie eingeübt werden. Wie es etwa in einem Erzählerkommentar von der Stiege heißt: »Hier wurde mehr als wortbar, nämlich schaubar deutlich, daß jeder Weg und jeder Pfad (und auch im unsrigen Garten) mehr ist als eine Verbindung zweier Punkte, deren einen man verläßt, um den anderen zu erreichen, sondern eigenen Wesens [...]« [5] oder: »sie ermüden nie uns zu sagen, daß jeder Weg seine eigene Würde hat und auf jeden Fall immer mehr ist als das Ziel.« [6]

Einprägsam sind dabei insbesondere zwei (architektonische) Eigenschaften der Stiege. Erstens ihre Zwitternatur, denn sie ist zugleich Kunstgegenstand und dabei doch etwas Gegebenes, Vorgefundenes, ein Ort, hat also genau den Charakter einer ideellen Autobiographie: ist »Werk« und spricht doch vom »geheimsten Leben«. Zweitens ihre Form, jene des Umwegs, die jede Art von Finalität (die Zweckgerichtetheit/Rationalität des möglichst schnellen Hinauf- oder Hinuntergelangens) allein durch ihre Anlage ausschließt - wie René Stangeler dies alles dem Major Melzer mit Notizen in der Hand bestens einschärft. [7]

Der »Raum« der Strudlhofstiege ist aber auch noch von zwei metaphorischen Bestimmungen geprägt. Sie wird mal als »Bühne des Lebens« metaphorisiert, mal als Tür in eine andere Welt. »Hier schien ihm eine der Bühnen des Lebens aufgeschlagen, auf welchen er eine Rolle nach seinem Geschmacke zu spielen sich sehnte, und während er die Treppen und Rampen hinabsah, erlebte er schnell und zuinnerst schon einen Auftritt, der sich hier vollziehen könnte, einen entscheidenden natürlich, ein Herab- und Heraufsteigen und Begegnen in der Mitte, durchaus opernhaft«,[8] heißt es von René Stangeler. Oder die Stiege wird in einen sakralen Kontext gesetzt, etwa so: »eine erleuchtete Pforte wie ein [...] Goldgrund: die Stiege!« [9] oder: »>Eine Brücke zwischen zwei Reichen. Es ist, als stiege man durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen [...]<« [10].

Ob »Bühne« oder »Pforte«, gemeinsam ist beiden, daß sie den Raum in zwei Teile spalten, in einen sichtbaren und einen unsichtbaren oder in einen profanen und einen sakralen. So widerlegt die Stiege als Raum die Einheit der Stiege als Lebensweg-Metapher. Womit lediglich jene These der Tangenten unterstützt wird, wonach »kein Problem auf jener Ebene lösbar ist, auf der es sich stellt [...]« und entsprechend auch, daß die Postulierung eines einheitlichen Lebenskonzeptes immer auch dessen Gespaltenheit voraussetzt. Das entsprechende sprachliche Modell dafür ist die Metapher, denn wie es in den Tangenten heißt: »Wozu auch sonst brauchte ich als Naturalist Hunderte von Seiten einer erzählenden Darstellung, die als Ganzes eine einzige Metapher ist?«[11]

Der grandiosen Bühnen-Metaphorik Doderers (der »Lebensbühne dramatischen Auftrittes, mit Pauken und Trompeten«, heißt es in der Strudlhofstiege, [12]) steht ein um einiges bescheidenerer Handlungsraum bei Nádas gegenüber. Die Schauplätze sind spärlich angedeutet und liegen zerstreut. Ein Garten, ein Haus in den Budaer Bergen, der XII. Bezirk, Wege, Verkehrswege in der Stadt, immer Ränder, fast nie Zentren. Auch dies ist »Bühne«, nur eine andere.

Identität taucht bei Nádas vordergründig im Kontext von Tradition und Bruch auf. Auch er bietet in einer Reihe von Werken Identitätsnarrative oder: es wäre vielleicht genauer zu sagen, Erzählungen von Identitätsreduktion. Reduzierend nenne ich diese Erzählungen, weil sie den Körper zur letzten Instanz der persönlichen Identität machen. Seine Texte sind zu einem ganz hohen Maße Narrationen von Körperereignissen, Körperbeziehungen und entsprechend charakterisiert vom Zweifel an Vermittlung, wie es am extremsten im Buch der Erinnerung formuliert wird: ich weiß, meint der Ich-Erzähler,

daß meine Gefühle [im Ungarischen ist es érzékeim - Sinne; Anm.] nicht zu täuschen und unbestechlich sind, erst fühle ich und dann denke ich, weil ich nicht so frei bin wie jene, die zuerst denken und erst hinterher erlauben, den geltenden Regeln entsprechend zu fühlen; und daher weiß ich aus letzter Instanz und unwiderruflich, was gut und was böse, was erlaubt und was nicht erlaubt ist.[13]

Der Widerspruch zwischen Gesetz und Bruch wird dabei hauptsächlich als Auflehnung gegen die Geschlechtsidentität ausgetragen. Bei der Einlösung einer homosexuellen Liebesbeziehung heißt es, »im tiefsten Sinne des Wortes hatte ich die Leiche meines Vaters damit hinter mir gelassen...« [14] Identität wird hier als Körper - oder auch als ein Pronomen und/oder Buchstabe - als Gegensatz zur Metaphorisierung »metonymisiert«. In einer Erzählung kommentiert der Ich-Erzähler (als Schriftsteller zu identifizieren) seinen Unwillen, auf den Wunsch seiner polnischen Übersetzerin hin einer seiner literarischen Figuren ein Geschlecht zu geben, er will, von den Regeln des Polnischen nicht eingeengt, aus seinem ungarischen Personalpronomen »õ« (für alles: er, sie, eventuell auch es) nichts aufgeben. Vielleicht als Entgeltung sind in der Erzählung alle Personen auf ihre Anfangsbuchstaben reduziert, wodurch das Geschlecht aller unkenntlich wird.

Der Verlust von Bestimmungen vollzieht sich aber zumeist nicht bloß auf der Wortebene. Nádas's erster große Erfolg, Das Ende eines Familienromans, mit einem für ihn charakteristischen Sujet (eine Kindheit im Budapest der fünfziger Jahre), erzählt die Herausformung einer Persönlichkeit als Verlust aller persönlichen Bestimmungen (wie Familie, Vater usw.). Auf dem Weg in die Stadt, als die Oma die Buskarte des Kindes sich sparen will und es für ein Kindergartenkind ausgibt, entsteht ein Radau im Bus. Der Schaffner brüllt: »Der, meine Dame, der wird auch nicht gehen [in die Schule nämlich; Anm.], so ein Idiot!« Mit seiner Reaktion auf die ausgrenzende Geste nimmt der Kind-Ich-Erzähler einen erotischen Aspekt vorweg: »Ich dachte, sie würden mir ansehen, was wir auf dem Boden gemacht haben. Ich sah nach, ob mein Hosenschlitz nicht offen geblieben war.« [15] - wobei er jene erotischen Spiele meint, denen er mit seinem Freund auf dem Dachboden gefrönt hat. Damit erprobt er die Identitätszuweisung (auf klassische Art und Weise) mit einen Blick auf den eigenen Hosenschlitz.

Der wichtigste Text für das Thema ist aber keine Erzählung, kein Roman, sondern ein einziger Satz. Trotz seiner Kürze ist es von Nádas ein entscheidendes »Wort« zum Topos Weg, zumal es schlicht und einfach diesen Titel hat:

Weg (1972) - Rohübersetzung[16]

Wenn jemand an einem Winterabend von der Rákóczi Straße in die Klauzál Straße einkehrt, und dort niemandem begegnet, stehenbleibt, dann weitergeht und die Fenster überall dunkel sind und den Marktplatz am Klauzál Platz erreicht, wo zwischen halb zwei und zwei jetzt die Verkaufsstände so ausgestorben sind und, einige seiner Gefühle vergessend, andere wiederum auf der Spitze seiner Zunge balancierend oder in seinem Hals schmeckend, jene kurze Strecke der Dob Straße überquert, über die er vom Klauzál Platz zur Kertész Straße gelangen kann, dann auf die erleuchteten Fenster des Fészek Klubs hinaufschaut - bevor er einbiegen würde -, doch unaufhaltsam vorwärtsschreitet und das Schaufenster des Papiergeschäftes an der Ecke nicht begafft; wer so handelt, der muß es unbedingt bemerken, daß in der Kertész Straße unvergleichlich mehr Autos parken als in der Klauzál Straße, obwohl größtenteils alte Wagen, und fast ausnahmslos schmutzig; doch nicht einmal das kann ein störender Faktor sein, denn wenn jemand - natürlich seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend - mein Beispiel befolgt und nachts zwischen halb zwei und zwei von der Rákóczi Straße in die Klauzál Straße, dann über die Dob Straße in der Kertész Straße seinen sentimentalen Spaziergang macht, und wenn er nicht langsam geht, doch sich auch nicht beeilt, dann kann er sicher sein, daß er in ungefähr acht Minuten dem dunklen Gebäude der Musikakademie an der Kreuzung von der Kertész Straße und der Majakovszkij Straße gegenübersteht.[17]

Der Ursprung dieses kurzen Textes aus dem Jahr 1972 scheint bei Kafka beheimatet zu sein. Er stellt aber nicht nur lediglich wegen seiner Kürze (oder Länge) die Paraphrase der Erzählung Der plötzliche Spaziergang dar.[18]

Auch da herrscht dieselbe Satzstruktur, dasselbe Vorwärtshasten des Textes über die Aufzählung von Bedingungen, dasselbe Thema (Abendlicher Spaziergang) und damit auch dasselbe (Bedeutungs)feld von Alltäglichkeit, um nicht zu sagen Banalität. Auch das allgemeine und unpersönliche Subjekt (man/jemand) ist vergleichbar.

Zugleich ist der Nádas-Satz übernommen worden vom großen ungarischen Text-Zirkulator Péter Esterházy, der ihn in seinen noch längeren, etwa 150 Seiten langen Satz, den Függõ: Bevezetés a szépirodalomba (Suspense: Eine Einführung in die schöne Literatur, 1981), eingebaut hat, folglich ist er in Zweitfunktion auch ein Weg von Kafka zu Esterházy geworden.

Esterházy hat daran allerdings, und das sei hier nur am Rande bemerkt, eine wesentliche kleine Veränderung vorgenommen, nach der Stelle »wenn jemand [...] mein Beispiel befolgt«, hat er einen Namen eingefügt, »így Halasi« (so Halasi), heißt es bei ihm, wodurch der Text doch einen sozusagen historischen Kern bekommt.

Einen solchen scheint Nádas's Weg jedenfalls nicht zu haben. Der Konditionalsatz gibt eine lange Reihe von Bedingungen an, die erfüllt werden müssen, damit das im übergeordneten Satz genannte Geschehen, Jenes-sicher-sein-können, der Kreuzung Kertész utca und Majakovszkij utca gegenüberzustehen, eintritt. Entsprechend erzählt der Text keinen realen, sondern nur einen möglichen Weg, ausgefüllt allerdings mit sehr genauen Angaben eines ganz realen Weges durch die Erzsébetváros, Budapests 7. Bezirk: Rákóczi út, Klauzál tér, Dob utca, Kertész utca und Majakovszkij utca sind die im Text erwähnten Straßen, die übrigens alle im ehemaligen Budapester Ghetto zu finden sind, es werden außerdem noch wegmarkierende Gebäude oder Geschäfte erwähnt, wie der Fészek Klub, ein Papier-Geschäft und die Musikakademie.

Ist dieser Satz eine Wegbeschreibung oder ein logisches Modell? Der Widerspruch liegt quer auf dem Weg. Es sind aber nicht die genauen Zeit- und Raumangaben an sich, die dem syntaktischen Entwurf eines Konditionalsatzes widersprechen, sondern die Konsequenz ihrer Anwendung. Nach einer Kette aneinandergereihter Bedingungen - als Wegzeichen zu erkennen - enthält der übergeordnete Satz zum Schluß doch keinen übergeordneten Inhalt, dieser liegt sozusagen selbst auf der Ebene des 7. Bezirks (wenn auch freilich an der Grenze zum 6., welcher Tatsache allerdings im Text keinerlei Bedeutung beigemessen wird) und »dann kann er sicher sein, daß er in ungefähr acht Minuten dem dunklen Gebäude der Musikakademie an der Kreuzung von der Kertész Straße und der Majakovszkij Straße gegenübersteht.« Die Spannung der aufgestauten Gliedsätze wird durch das syntaktische Schema aufgelöst, nicht aber durch dessen Füllung, im Gegensatz etwa zum Kafka-Text. Jener führt durch die Aufzählung von Handlungen und Begebenheiten, eine Veränderung der (räumlichen und persönlichen) Bereiche (verlassen des Hauses, Besuch bei einem Freund) herbei und gibt sogar deren persönliche Bedeutung an (unerwartete Freiheit, Entschluß, Veränderung, sich zu seiner wahren Gestalt erheben), während im Nádas-Text lediglich die Fortsetzung des Weges bzw. das Erreichen einer Kreuzung behauptet wird. Der Kafka-Text löst die durch das lange Aufzählen von Bedingungen, deren Folgen man noch nicht kennt, entstandene Spannung auf und impliziert damit im Nachhinein ein Ziel der Handlungen: »[...] dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt.« Dieser als Ergebnis markierte Tatbestand wird dann sogar in einem zweiten (Schluß-)Satz bekräftigt: »Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um zu sehen, wie es ihm geht.«

Wo liegt der Sinn eines Weges, der statt vom Motiv zum Ziel, lediglich von der Rákóczi utca zur Majakovszkij utca führt? Für die Rekonstruktion einer Metaebene lassen sich auf diesem Weg gewiß wenige Anhaltspunkte finden!

Der Gang ist in eine Kette von an und für sich belanglosen Handlungen aufgegliedert: einkehrt, begegnet, stehenbleibt, erreicht, überquert, hinaufschaut, vorwärtsschreitet, (nicht) begafft, bemerkt, Beispiel befolgt, Spaziergang macht, (nicht zu) langsam geht, sich (nicht) beeilt, kann sicher sein, daß er gegenübersteht. Sie sind verknüpft nach der Logik eines »unaufhaltsamen Vorwärtsschreitens«, die zugleich der Logik der aneinandergereihten Gliedsätze folgt. Allerdings steht jenem pausenlosen Vorwärtsschreiten, das im Text erwähnt ist, ein »Hin-und-Her« der Handlungen gegenüber, ein Zögern, um nicht zu sagen ein Erwägen: stehenbleibt - weitergeht; hinaufschaut - nicht begafft. Manche Tätigkeiten werden förderlich, andere als störend oder als potentiell störend erachtet: beim Überblicken der Kertész Straße und Klauzál Straße - heißt es z.B. - muß man unbedingt bemerken, »daß in der Kertész Straße unvergleichlich mehr Autos parken als in der Klauzál Straße, obwohl größtenteils alte Wagen, und fast ausnahmslos schmutzig«, »doch nicht einmal das kann ein störender Faktor sein«. Diese Gegenüberstellung (unvergleichlich mehr, obwohl ausnahmslos schmutzig) überrascht nicht nur, weil die Relevanz des Autobestandes für den Spaziergang relativ schwer ersichtlich ist, sondern auch, weil jenes Tertium comparationis zwischen »mehr« und »schmutzig« fehlt. Auch die Bewertung (störender Faktor) setzt relevante Gesichtspunkte der Kategorisierung voraus - lauter Sachen, die im Nádas-Satz fehlen. Sie verweisen, ähnlich wie das nicht eingelöste narrative Schema, auf eine Metaebene des Textes, wenngleich nur als Mangel, denn diese ist nicht vorhanden.

Am augenfälligsten wird diese Leere allerdings im Gebrauch des Indefinitpronomens als Subjekt. »Jemand« steht für die Modellhaftigkeit des Textes. Es ist ein Weg, den ein jeder gehen könnte, es sind Bedingungen und deren Folgen, die jeder stellen und vollziehen kann.

Auch hier würde ich auf den Kafka-Text zurückgreifen, der, obwohl er eine scheinbar ähnliche grammatische Form (das Indefinitpronomen) benutzt, tatsächlich ein persönliches Ziel des Spazierganges angibt, indem man sich dabei »zu seiner wahren Gestalt erhebt.«

Ein Subjekt, das, wenn auch nur im Nachhinein, den Weg zu einer persönlichen Angelegenheit machen, die ins Spiel kommenden Bedeutungen fokussieren, und ihnen einen zugleich allgemeineren und persönlicheren Sinn geben würde, ist aber bei Nádas nicht vorhanden. Das Wort »valaki« (jemand) bezeichnet lediglich eine grammatische Funktion.

Doch selbst die Leere birgt einen Widerspruch, der Teufel scheint auch hier in den Einzelheiten zu wohnen.

Bestimmt wird das Subjekts des Satzes nämlich erst durch einen eingeschalteten Relativsatz, eingefügt ungefähr in der Mitte der Periode: »[...] wer so handelt, der muß es unbedingt bemerken, daß [...]«. Damit wird die Beziehung zwischen Bedingungen und ihrer Folge (wenn, dann) mit der Gleichsetzung des Relativsatzes (wer, der) vertauscht. Die Beziehung von vorangehenden Gliedsätzen und Folgesatz beruht also nicht lediglich auf der notwendigen Bedingung, sondern auf der Identität: »[...] wer so handelt, der [...]«.

Allein, wie wird durch die Aufzählung von Tätigkeiten wie einbiegen, stehenbleiben, weitergehen, hinaufschauen, nicht begaffen, langsam gehen, sich beeilen und erreichen die Identität eines Subjekts bestimmt? Wie wird das Wandeln durch die Straßen zum »Handeln«?

Den kohärenzstiftenden Punkt des Textes in der Bestimmung des grammatischen Subjekts zu suchen, wäre vergeblich, denn jener wird höchstens durch einen Widerspruch definiert.

Bei dem ersten Anlauf, den Satz zu beenden, wo der Satzanfang notgedrungen noch einmal wiederholt wird, kommt ihre Zweideutigkeit unversehens aber unwiderruflich zum Vorschein: »[...] wenn jemand - natürlich seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend - mein Beispiel befolgt [...]«. »Jemand« »zerfällt« hier im nachhinein in ein nicht näher definiertes Ich (mein Beispiel) und all jene, die dieses »Beispiel befolgen«, wobei die beiden »Bedeutungen« gerade durch das Absolvieren des Weges in Verbindung geraten. Jeder, der wie ich, diesen Weg entlanggeht. Auf dem Weg wird jemand zum »ich«, zum »Beispiel«, und zwar gerade durch den Weg, den er begeht; entsprechend soll jener, der dieses Beispiel befolgt, dies »natürlich seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend« tun. Gesichert scheint damit lediglich ein »ich« als Erzähler und ein »irgendjemand«, der dem Beispiel des Erzählers folgen könnte. Womit dieses auch für grundsätzlich wiederholbar erklärt wird.

Der Widerspruch ist weder aufgelöst noch aufgehoben. Folglich scheinen jene im Text verstreuten Rufwörter der Empfindsamkeit, Füllwörter jeden Ich-Repertoirs, hier in einem leeren Raum zu wesen: »[...] einige seiner Gefühle vergessend, andere wiederum auf der Spitze seiner Zunge balancierend oder in seinem Hals schmeckend [...]«. Die als Umstandsangaben untergebrachte »Gefühle« verweisen in der schon bekannten Art auf etwas, das im Text nicht weiter ausgeführt wird. Welche Gefühle werden vergessen, welche im Hals geschmeckt oder auf der Spitze der Zunge balanciert? Das Übereinanderblenden von vergessen und schmecken modelliert die Struktur der Ambivalenz, wobei das Balancieren die Mitte hält. Die Orte der Lust paraphrasieren als Stationen des Empfindens die Topographie des Weges. Auch der »sentimentale Spaziergang« zerlegt den Raum, indem jemand stehenbleibt und weitergeht, zugleich aber auch das Wahrgenommene: denn er »muß unbedingt bemerken, daß in der Kertész Straße unvergleichlich mehr Autos parken als in der Klauzál Straße, obwohl größtenteils alte Wagen, und fast ausnahmslos schmutzig«, und eben das Balancieren führt zum Ziele: »[...] und wenn er nicht langsam geht, doch sich auch nicht beeilt, dann kann er sicher sein [...]«.

Um mit Nádas zu reden: »Vieles verweist auf eines, das vielleicht gar keine Sache ist«.[19] Eine Ambivalenz, die auf der Zungenspitze balanciert wird, modelliert vor allem die Sprechweise des Textes. Er sagt manches, verschweigt mehreres - halt was auf der Spitze der Zunge liegt, sperrt sich jeder Art von Transzendierung, selbst der sprachlichen, der Metaphorisierung gegenüber.

Wenn man es also mit einem Satz zu tun hat, der vom »Sicher sein können« spricht, ohne einen Bezugspunkt dafür anzugeben, ein Indefinitpronomen in mehrere Bezeichnete zerfallen läßt und dazu noch Falsches und Richtiges trennt, ohne ein Kriterium der Unterscheidung anzugeben, dann könnte man dessen fast sicher sein, daß dieser Text sich allen metaphysischen Identifikationsakten gegenüber verschließt und etwas zynisch könnte man noch hinzufügen: Weg halt Weg sein läßt.

Fußnoten

[1] Unter Raum verstehe ich eine, in diesem Fall reale, räumliche Beziehung, die im Sinne von Lotman als »Sprache für den Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen des Textes« verstanden werden kann. Vgl. Jurij M. Lotman, Das Problem des künstlerischen Raums. in: Grundlagen der Literaturwissenschaft. II. Hrsg. v. M. Orosz u. P. Zalán. Budapest 1995. S.161.
[2] Bei der Strudlhofstiege etwa liegt dieser »pragmatische« Aspekt auf der Hand, doch auch der Nádas-Text wird z. B. als Motto zu Budapest-Büchern für den kultischen Gebrauch verwertet. Vgl. z. B. György Péter - ifj. Durkó Zsolt, Utánzatok városa - Budapest. Cserépfalvi 1993.
[3] Heimito von Doderer, Der Fall Gütersloh. In: Ders., Die Wiederkehr der Drachen, München 1970, S. 108.
[4] Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. München 1951, S. 807.
[5] Doderer, Strudlhofstiege, S. 330.
[6] Doderer, Strudlhofstiege, S. 331.
[7] Doderer, Strudlhofstiege, S. 490.
[8] Doderer, Strudlhofstiege, S. 129.
[9] Doderer, Strudlhofstiege, S. 135.
[10] Doderer, Strudlhofstiege, S. 285.
[11] Heimito von Doderer, Tangenten. Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers 1940-1950. München 1995. S. 134.
[12] Doderer, Strudlhofstiege, S. 135.
[13] Péter Nádas, Buch der Erinnerung, Berlin 1991, S. 813; ungarische Ausgabe: Nádas Péter:, Emlékiratok könyve, Budapest, 1986. S. 333.
[14] Nádas, Erinnerung, S. 406.
[15] Péter Nádas, Das Ende eines Familienromans, Frankfurt am Main 1979, S. 44-45.
[16] Eine »kanonisierte« Übersetzung liegt derzeit nicht vor. Die von C. Viragh wird demnächst in einem Band »Budapest in der Literatur« im Insel Verlag erscheinen.
[17] Auf ungarisch: »Ha valaki befordul egy téli éjjel a Rákóczi útról a Klauzál utcába, és nem találkozik senkivel, megáll és megy, és mindenütt sötétek az ablakok, és kiér a Klauzál téri piacra, ahol fél kettõ és kettõ között most olyan kihaltak a standok, és bizonyos érzelmeit feledve, más érzelmeit viszont a nyelve hegyén egyensúlyozva vagy a torkán ízlelgetve átvág a Dob utcának azon a rövid szakaszán, amelyen a Klauzál térrõl elérhet a Kertész utcába, majd felnéz a Fészek klub kivilágított ablakaira - mielõtt befordulna -, de folyamatosan halad elõre, és nem bámulja meg a sarki Ápisz-bolt kirakatát aki tehát így cselekszik, annak föltétlenül észre kell vennie, hogy a Kertész utcában összehasonlíthatatlanul több gépkocsi parkol, mint a Klauzál utcában, bár jobbára öreg autók, s szinte valamennyi piszkos ám ez sem lehet zavaró tényezõ, mert ha valaki - természetesen a saját igényeihez igazodva - követi példámat, és éjjel fél kettõ és kettõ között a Rákóczi útról a Klauzál utcán, majd a Dob utcán keresztül a Kertész utcában folytatja érzelmes sétáját, s ha nem megy lassan, de sietnie sem kell, akkor biztos lehet benne, hogy körülbelül nyolc perc múlva a Zeneakadémia sötét épületével szemben a Kertész utca és a Majakovszkij utca keresztezõdéséhez ér.« (Nádas Péter: Út [1972] in: Leírás. Budapest, 1979)
[18] Vgl. »Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft - dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. [/] Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.« (F. Kafka, Der plötzliche Spaziergang, in: F.K., Erzählungen. Leipzig 1978. S. 13.)
[19] Péter Nádas, Helyszínelés (Tatortbesichtigung). in: 2000, Jg.1, H. 1, 1989.



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