PALIMPSZESZT
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Ágnes HÉGER
"Konfusion, nichts als Konfusion!"
Das Verhältnis von Sein und Schein als Problem der Weltinterpretation in Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts

  1. Einfügung des Taugenichts ins romantische Paradigma der Bildungs- und Künstlergeschichte
    1. Der architextuelle Rahmen
    2. Gattungskontrast
  2. Die narrative Struktur der Erzählung
    1. Das allgemeine Schema
    2. 1. Episode
    3. 2. Episode
    4. 3. Episode
    5. 4. Episode
    6. 5. Episode
    7. 6. Episode
    8. 7. Episode
  3. Aspekte der narrativen Struktur
    1. Zeitlichkeit und narrative Struktur
    2. Aktivität und Passivität
    3. An der Grenze von zwei Existenzformen
  4. Skeptische Weltinterpretation
  5. Bibliographie
  6. Fußnoten

Dieser Artikel ist in dem Buch mit dem Titel "[...] als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet [...]" Topoi der Heimat und Identität nicht erschienen. Er hat wegen seiner Themenwahl aus der deutschen Literatur in dieser Nummer einen Platz gefunden.

Die Redaktion

1. Einfügung des Taugenichts ins romantische Paradigma der Bildungs- und Künstlergeschichte

1.1. Der architextuelle Rahmen[1]

Die Romantik problematisiert und thematisiert die Frage, inwieweit die Welt vom Subjekt kennengelernt und vom Künstler dargestellt werden kann. Der romantischen Asthetik nach strebe das kennenlernende Subjekt danach, den Erkenntnisprozeß bzw. sein eigenes Ich mit dem kennenzulernenden Objekt in Einklang zu bringen. In der Literatur läßt sich dieser Prozeß am stärksten in der Gattung des Romans darstellen, der "allein imstande sei, die Idee des >>unendlichen Progresses<< (J. G. Fichte) vollkommen auszudrücken, den das Ich auf dem Wege zu einer höheren, einheitstiftenden Totalität von Natur und Geist durchlaufe".[2] Diesen unendlichen Progreß repräsentieren in diesem Zeitalter zwei Bildungsromane unterschiedlichen Typs: Goethes Wilhelm Meister und der Heinrich von Ofterdingen von Novalis. Auch diese Werke entbehren nicht den leichten Zug der Ironie (z.B. Problematik der Turmgesellschaft), die die Möglichkeit der Verwirklichung eines vollkommenen Zustandes relativiert, trotzdem werden diese Romane praktisch seit ihrer Entstehung als Paradebeispiele für die Darstellung des Entwicklungsprozesses und des Künstlertums angesehen.[3]

Die vorliegende Analyse geht von der Behauptung aus, daß die Taugenichts-Geschichte, obwohl sie viele Ahnlichkeiten mit den Bildungsromanen aufweist, eigentlich nicht deren Muster folgt. Der Taugenichts beläuft einen Weg, der nicht geeignet ist, ihm irgendwelche "Einsichten" etwa im Sinne des Wilhelm Meisters zu liefern, seine Wanderung führt zu keiner Entwicklung. So erscheint das Verhältnis zwischen der ihn umgebenden Welt (Sein) und seinen Vorstellungen und Wahrnehmungen (Schein) als eine unaufhebbare Opposition, was er selbst trotzdem nicht als Opposition betrachtet; da er das Sein und den Schein identifiziert, ist er nicht imstande, eine Opposition zu behaupten. Das "ewig Kindliche", das den Taugenichts für die anderen Figuren und den Leser zu einem liebenswerten literarischen Helden macht, erweist sich als eine Schranke, die das Subjekt daran hindert, den richtigen Relationen zwischen den Zeichenelementen (zwischen Signifikanten und Signifikaten) nachzugehen.

1.2. Gattungskontrast

Sein Problem ist in den Kontrast des Märchenhaften/Kindlichen und Romanhaften/Erwachsenen eingebettet. Die Personen betrachten nämlich die Geschichte aus dem Gesichtspunkt von diesen zwei -- in der Romantik äußerst beliebten -- Gattungen: Der Taugenichts nimmt sich selbst als eine Märchenfigur wahr, während sich die anderen als Romanhelden apostrophieren. ("Ich durfte nur sagen: >>Tischchen, deck dich!<<, so standen auch schon herrliche Speisen [...] da." bzw. "du hast wohl noch keinen Roman gelesen?<< Ich verneinte es. >>Nun, so hast du doch einen mitgespielt."[4]) Diese unterschiedliche Selbstbestimmung (demzufolge unterschiedliche Auffassung der Welt) mündet ins Weltinterpretationsproblem des Taugenichts. Da er innerhalb seiner Phantasiewelt das Verknüpfen von Signifikanten und Signifikaten konsequent durchführen will und die Realität (was nun die Realität der anderen bedeutet und für ihn belanglos ist) nicht zur Kenntnis nehmen kann, weil er den Schein als Sein erlebt, verursachen ihm die Geschehnisse immer wieder Enttäuschungen in den Momenten, wo der "Roman" ("die Konfusion mit den Herzen") in seine Märchenwelt eindringt und ihm die Rolle eines Romanhelden aufzwingt. (">>meine Gräfin meinte es so gut mit dir, wirft dir erst Blumen aus den Fenstern zu, singt Arien -- und das ist nun ihr Lohn! Aber mit dir ist nun einmal nichts anzufangen; du trittst dein Glück ordentlich mit Füßen.<<" schimpft die Kammerjungfrau auf ihn, als er in Rom anstatt der "schönen gnädigen Frau" eine italienische Gräfin findet.) Diese Enttäuschungen implizieren aber für ihn nicht die Möglichkeit, die vorangehenden Ereignisse neu zu deuten und damit seine früheren Annahmen zu modifizieren/revidieren. Wenn sich die von ihm vorher aufgestellte Zeichen- und Personenkonstellation als unhaltbar erweist, wirft er sie sofort weg und schafft eine vollkommen neue, was natürlich ebenso unzulänglich ist. (Er hält z.B. den Sohn der Gräfin zuerst für den Gemahl der schönen gnädigen Frau, dann für ihren Bruder.)

In der Erzählung schimmert auch die Hans im Glück-Geschichte durch. Der einfältige Hans tauscht das eben Erworbene für ein Neues aus, das in den Augen der Umgebung einen immer kleineren Wert hat, bis endlich Hans mit leeren Händen, aber glücklich nach Hause kehrt. Hans glaubt aber im Augenblick des Wechsels immer ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Diese ständige Zufriedenheit, auf die bald eine Enttäuschung kommt, gilt auch für den Taugenichts, der, wenn er eine zutreffende Beziehung zwischen Rollen und Personen herstellen zu können meint, bis zur nächsten Enttäuschung fest auf seinem Glauben besteht.

Der Taugenichts ist also "ein echter Märchenheld und nicht ein Romanheld, und zwar deshalb, weil er das Phantastische als wirklich, das Poetische als real nimmt und den in der Reflexion gespiegelten Gegensatz von wirklicher und romanhafter Welt gar nicht kennt."[5] (Herv. Á. H.) Die Reflexion setzt nämlich die Position des Außerhalb-sich-Stehens voraus, was aber eben dem Taugenichtswesen, der Märchengestalt widerspricht. Er kann nie über die Nasenspitze hinaussehen (die Nase ist übrigens ein durch die ganze Geschichte durchziehendes Motiv), bleibt fest in seiner inneren Welt, interpretiert und beschreibt die Welt aus dieser inneren Position: "Hinter mir gingen nun Dörfer, Gärten und Kirchtürme unter, vor mir neue Dörfer, Schlösser und Berge auf; unter mir Saaten, Büsche und Wiesen bunt vorüberfliegend, über mir unzählige Lerchen in der klaren Luft -- ich schämte mich, laut zu schreien, aber innerlichst jauchzte ich und strampelte und tanzte auf dem Wagentritt herum". Eigentlich ist es nicht nur die Gegend selbst, die ihn in solch eine euforische Stimmung versetzt, sondern auch die eigene Entzücktheit des Taugenichts wird sozusagen in die Welt projiziert, "die Lust des Ausfahrens [...] bringt hier die Elemente der Landschaft zum Tanzen, so daß zwar die räumlichen Grundorientierungen erhalten bleiben, aber alles andere zur Funktion der inneren Bewegung wird."[6]

Das zu keiner Reflexion, Veränderung und Entwicklung fähige Kinderwesen wird aber im Werk nicht negativ bewertet. Aus dem Beharren auf der kindlichen Weltauffassung, auf den Träumen, aus dem Vertrauen auf die göttliche Fürsorge resultiert der optimistische Ausklang der Geschichte: "gleich nach der Trauung reisen wir fort nach Italien, nach Rom", was die für den Taugenichts typische Haltung "ich ließ mich nichts anfechten" noch einmal unterstreicht -- derjenige, der seine innere Welt nicht eliminieren läßt, ist imstande, die durch unangenehme Ereignisse erfahrene Welt ("das falsche Italien") und seine Idealbilder weiterhin auseinanderzuhalten. Diese Disposition ermöglicht dem Taugenichts, "ohne allen welschen Beigeschmack" heimzukehren; sein Benehmen wird trotz aller Irrungen und Wirrungen von äußeren Wirkungen nicht beeinflußt. "Die Jugendlichkeit des Helden ist so grundsätzlich genommen, daß sie im Taugenichts-Roman auch immer bewahrt bleibt; Lazarillo, Simplizissimus, Wilhelm Meister mögen altern und sich arrangieren (>erwachsen< werden) -- für den Taugenichts und seine Brüder ist das undenkbar, was ihn vom Bildungs- und Entwicklungsroman wie vom Schelmenroman und überhaupt von aller psychologisierenden Erzählkunst bedeutsam unterschieden sein läßt."[7]

2. Die narrative Struktur der Erzählung

2.1. Das allgemeine Schema

Die Tatsache der Unveränderlichkeit äußert sich in der linearen Verkettung der einzelnen Episoden, die sich auf das folgende Schema zurückführen lassen:

  1. Grundposition: Zustand der Zufriedenheit/Vergnügtheit (Traum~Wachsein)
  2. Bewegung hervorgerufen: durch ein Zeichen (das ihm bzw. von ihm gegeben wird-- inkl. Benennung)
  3. vorübergehendes Glücksgefühl
  4. Interpretationsversuch: Halbentdeckung/Fehlinterpretation/Enttäuschung (Zufall)
  5. Reaktion und Austritt aus der problematischen Situation: Weinen/Einschlafen/sich auf den Weg machen ahnungsloser Übergang zur nächsten Episode

Die Struktur des Werks läßt sich also schematisch folgenderweise darstellen:

E1: Anfangszustand --> Übergangsphase --> Endzustand
          a                 b-c-d               e
                             --> E2: Anfangszustand...

Diese Struktur ermöglicht, daß eine Episode (ihre Grenzen fallen übrigens mit denen der Kapitel nicht immer zusammen) mehrere Teilepisoden enthält, die nach dem angegebenen Muster feinstrukturiert sind: En = En' + En'' + ... z. B. E6 = E6' + E6'' Im Folgenden wird versucht, diese Elemente in der Erzählung konkret nachzuweisen.

2.2. (1. Episode)

"mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenschein" (a) -- Man begegnet dem Taugenichts zuerst auf der Türschwelle sitzend, wo die Türschwelle auch den Eintritt in die Geschichte andeutet. Damit passiert der erste Schritt auf dem Wege der Spaltung zwischen Sein und Schein in der Erzählung, obwohl sich nicht behaupten läßt, daß bis zu diesem Punkt die beiden Sphären absolut in Einklang gewesen wären, sonst hätte der Taugenichts den Wanderweg nicht betreten.

Der Akt, durch den er von der Stelle gerückt wird, ist die Benennung Taugenichts (b), die im Titel der Erzählung vorausgekündigt wird und mittels vielerlei Variationen durch die ganze Geschichte hindurchzieht. Da ihm während seiner Reise nie ein Familien- oder Vorname zugeordnet wird, kommt der Anfangsszene eine äußerst große Bedeutung zu, indem er von seinem Vater als Taugenichts angeredet wird. Man erhält seinen Eigennamen (also einen Signifikanten, aufgrund dessen man identifiziert und von anderen Personen distanziert werden kann) im allgemeinen von den Eltern -- hier erfüllt die Geste des Vaters diesen Akt, obwohl sich die Bezeichnung Taugenichts, wenn auch zu einem zentralen, nicht aber zu einem Eigennamen erhebt.

Er nimmt diese Bezeichnung mit einer Märchenformel an: "wenn ich ein Taugenichts bin, so ist's gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen. Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehn" -- als hätte er nur auf diesen Akt gewartet, der ihn aus der Namenlosigkeit hervorhebt. Die Absichten seines Vaters fallen mit seinen inneren Entschlüssen zusammen. "Hier wird nicht Not (Vertreibung) zur Tugend gemacht"[8], sondern ein schon längst vorhandener innerer Zwang findet seine natürliche Ausbruchsmöglichkeit. Das Glück ist übrigens "eine Kategorie des Märchens"[9]; und wenn der Taugenichts von den Literaturhistorikern (z. B. Wiese) als Sonntagskind bezeichnet wird, ist es absolut grundsätzlich zu nehmen: Im Falle des Taugenichts gewinnt dieses Wort seine Bedeutung 'Glückskind' textuell motiviert zurück. Die glücklichen Gefühle und Ereignisse seines Lebens hängen immer mit dem Sonntag (heiliger Tag!) zusammen, gehe es um frische, frohe Wanderung (wie in der Anfangsszene: "Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte.") oder um Träumereien ("wenn ich dann an Sonntagsnachmittagen vor der Mühle im Grase lag").

Dem Wandern heiteren Gemüts (c) folgen eine immer noch lustige Kutschenfahrt und die erste Bezeichnung von seiten des Taugenichts: "zwei vornehme Damen" , die sich später Schritt für Schritt in die "schöne gnädige Frau" umwandelt, weil er das, was vom Ende her gelesen als 'vornehm aussehend' oder 'sich vornehm benehmend' enthüllt wird, für ihn die Bedeutung 'von edler Geburt' gewinnt (d). In dieser Episode löst noch nicht diese Interpretation das Problem aus, sondern die Wandlung der Tageszeiten: "rings am Horizont schwere weiße Mittagswolken aufstiegen und alles in der Luft und auf der weiten Fläche so leer und schwül und still wurde [...], da fiel mir erst wieder mein Dorf ein. [...] Mir war dabei so kurios zumute, als müßt´ ich wieder umkehren" (herv. Á. H.). Hier hat man zu Recht den Eindruck, als verursachte die Außenwelt die Stimmungsveränderung des Taugenichts, man muß aber feststellen, daß im Hinblick auf den ganzen Text nicht von einem "Einbahnverkehr", sondern von einer Wechselwirkung die Rede sein kann. "Der Taugenichts ist ein von Jahreszeiten, Wetter, Landschaft und Umgebung abhängiges Wesen"[10], aber sein Innenleben wird nicht ausschließlich von äußeren Wirkungen gelenkt (vgl. Anm. 6), man könnte eher von einem Ineinanderspielen der inneren und äußeren Welt, von einer Symbiose sprechen, was zugleich auch unsichere oder ununterscheidbare Grenzen zwischen den beiden Bereichen (zumindest für die Taugenichts-Figur) bedeuten kann.

Der Mittag erscheint auch weiterhin (z. B. am Anfang des 8. Kapitels) als ein Konzentrationszentrum von Schwere und Wehmut ("nicht umsonst ist die Mitte des Tages seit alters als ein Ort der Schwerkraft angesehen worden"[11]), das einen Kontrapunkt zum Morgen und jungendlichen Aufbruch bildet. Es ist nämlich kein Zufall, sondern das Zusammenspiel von mehreren Faktoren, daß dieses "In-die-Welt-Gehen" eben jetzt passiert: Der Frühling ist "vor der Türe"; die Jahreszeit der Anfänge, die Neugeburt der Natur, die Jugend und die Poesie als Nachbarphänomene für das literarische Bewußtsein skizzieren schon zu Beginn den Motivkreis der Erzählung. Der Anfang des neuen Lebens, der Frühling korrelieren in Eichendorffs Werken oft mit dem Tagesanbruch/Aurora.[12] Der Mittag ist aber kein Anfang mehr, sondern ein "Wendepunkt" zwischen dem Tagesanfang und den weiteren Tageszeiten, was hier metaphorisch auch die Schwelle zwischen Kindheit/Jugend und erwachsenem Alter bezeichnen kann. Für den Taugenichts ist es eben deshalb eine problematische oder Gefahrzone, weil er nicht fähig ist, diese Grenze einfach zu passieren. Aus dieser Gefahrzone[13] führt nur ein Ausweg: der Taugenichts schläft ein (Verdrängung des Problems?) und erwacht in einer neuen Situation (er wird zum Gärtner ernannt) mit dem Gefühl einer völligen Ahnungslosigkeit: "ich weiß nicht recht, wie doch alles so gekommen war" (e).

2.3. (2. Episode)

"In dem Garten war schön leben", stellt er fest (a), wo dieses Vergnügtsein die Träumereien und das Wachsein verwischt: da seine Position von außen schon bestimmt wurde (Gärtner), bleibt ihm nur das Erheben seiner Person auf die Ebene der "jungen schönen Dame" übrig ("wenn ich ein Kavalier wäre"). Hier wird zum ersten Mal darauf hingedeutet, daß er die Gestalt der schönen gnädigen Frau als den Inbegriff der reinsten, idealsten Liebe allegorisiert: "wie ein Engelsbild, so daß ich nicht recht wußte, ob ich träumte oder wachte." Sie erscheint im Auge des Taugenichts die ganze Erzählung hindurch als/mit eine(r) weiße(n) Lilie: "Die schöne Frau, welche eine Lilie in der Hand hielt, saß dicht am Bord des Schiffleins und sah stillächelnd in die klaren Wellen hinunter, die sie mit der Lilie berührte, so daß ihr ganzes Bild zwischen den widerscheinenden Wolken und Bäumen im Wasser noch einmal zu sehen war, wie ein Engel, der leise durch den tiefen blauen Himmelsgrund zieht." oldal: 9 [14]

Mit dem Akt der Widerspiegelung entsteht eine Brücke zwischen der irdischen und himmlischen Sphäre -- ebenso wie der Taugenichts in seiner Kindheit zu tun pflegte: "wenn ich dann an Sonntagsnachmittagen vor der Mühle im Grase lag und alles ringsum so stille war, da dachte ich mir Rom wie die ziehenden Wolken über mir, mit wundersamen Bergen und Abgründen am blauen Meer und goldenen Toren und hohen, glänzenden Türmen, von denen Engel in goldenen Gewändern sangen."[15] (Herv. Á. H.) Wenn man sich im Gras liegend die Wolken am Himmel ansieht, entsteht eine umgekehrte Perspektive, die in dieser Novelle nicht weniger "real" als die "irdische Welt" erscheint. Traum und Wachsein können nicht scharf auseinandergehalten werden -- kein Wunder, daß diese Rom-Beschreibung nicht viel Gemeinsames mit der in der realen Welt existierenden Referenz des Namen Rom aufweist. (vgl. "am blauen Meer") Es geht hier um die Stadt, um die "Gottesstadt mit ihren Einwohnern, den Engeln".[16] Genauso wie die Stadt schon in der Phantasie des Kindes fest eingewurzelt war, war auch das Bild der perfekten, absoluten Liebe schon vorhanden. Die schöne Frau auf dem Pferd erblickend sagt er: "Es war mir nicht anders zumute, als da ich sonst in den alten Büchern bei meinem Vater von der schönen Magelone gelesen". Die Taugenichts-Geschichte ist also eine Ausbreitung der kindlichen Gedankenwelt.

Die Rolle des Hebels wird in dieser Episode von der Flasche Wein erfüllt (b), die nach den Worten der Kammerjungfrau von der "vielschönen gnädigen Frau" dem Taugenichts geschickt wurde, was ihn natürlich dazu bringt, sein Idealbild mit dem Weinschenker zu identifizieren. (Diese Identifizierung wäre von außen her gesehen keinesfalls die einzige Möglichkeit; im Grunde genommen wird später im Text nicht präzisiert, von wem der Wein stammt.) Aufgrund dieses Geschenks fühlt sich der Taugenichts ermuntert (c), ein bißchen um seine Geliebte herumzuhantieren und sie zu belauschen, doch er kann ihr nicht näherkommen, weil ihm eine "fatale Fliege" in die Nase fliegt und das Niesen ihn verrät. Die Figur der Dame wird als etwas Unerreichbares fixiert -- "Ihr darf ich keinen [Blumenkranz] reichen, / Sie ist zu hoch und schön" (d) --, indem die Frau für den Taugenichts eher der himmlischen Sphäre angehörig zu sein scheint, und die Traurigkeit darüber vorübergehend mit bitterem Weinen kompensiert wird (e).

2.4. (3. Episode)

Der Auftakt einer neuen Sequenz im Leben des Taugenichts heißt:"so war ich denn wirklich Zolleinnehmer, ehe ich mich´s versach". "Das alles hatte ich mir schon einmal gewünscht, als ich noch zu Hause war" (a). Sein Leben wäre aber nicht so vergnügt, wenn er nicht jeden Tag einen Blumenstrauß für die schöne gnädige Frau auf dem Gartentisch hinterlassen würde (b1), der wirklich von seiner Geliebten aufgenommen wird. Für die weiteren Geschehnisse wichtiger erscheint uns aber das nächste Zeichen (b2), das wieder von der Kammerjungfrau als Boten dem Taugenichts übermittelt wird und zum Kulminationspunkt dieser Episode führt: "es soll heute abend dem Herrn zu Ehren Tanz im Schlosse sein und Maskerade. Meine gnädige Frau wird auch maskiert sein, als Gärtnerin -- versteht Er auch recht -- als Gärtnerin." Der Versuch der Kammerjungfrau, dem Taugenichts zweimal betont einzutrichtern, was von ihm erwartet wird (er solle ihr Blumen bringen), bekommt aber gleich einen ironischen Schein, da unter der Larve "die andere gnädige Frau" steckt. Die Herren scheinen die Einfältigkeit des Taugenichts bewußt zu mißbrauchen und mit den Zeichen zu manipulieren, da sie im Taugenichts die Hoffnung des Aufeinandertreffens seiner Person und der schönen gnädigen Frau erwecken: (Ex)Gärtner--Gärtnerin (c). (Interessanterweise passiert ihm jetzt wieder etwas Fatales, wenn er -- seine Dankbarkeit äußernd -- die Kammerjungfrau zu erhaschen und zu küssen versucht: "unglücklicherweise verwickelte sich mir dabei der Schlafrock [...] unter den Füßen, und ich fiel der Länge nach auf die Erde." Diese Zufälle, die dem Glück ähnlich ebenfalls der Gattung des Märchens zuzuordnen sind, treten immer im Zusammenhang mit einem vom Taugenichts intendierten Interpretationsversuch auf. S. 2.7., Episode 6)

Nach dieser Entdeckung des Rollenwechsels baut sich aber der Taugenichts wieder eine fehlinterpretierte Welt auf, weil er die Aufdeckung aller Details seiner früheren falschen Interpretation aufgibt, bzw. ihm diese Gelegenheit absolut nicht einfällt: "da fiel es mir auf einmal aufs Herz, daß mich wohl eigentlich nur die Tante mit den Blumen bestellt hatte, daß die Schöne gar nicht an mich dachte und lange verheiratet ist und daß ich selber ein großer Narr war." Diese Enttäuschung (d) erweist sich im Hinblick auf die früheren so erschütternd, daß er damit bloß durch Schlafen nicht klarkommen kann, sondern sich zum Reisen genötigt fühlt (e).

2.5. (4. Episode [17])

Der neue Morgen zieht ein neues Aufbrechen zur Wanderung mit sich, wo der Interpret diese Gelegenheit zu einer Einschränkung benutzen muß: Das Vagabundieren ist nämlich "nicht immer reines, ungemischtes Glück"[18]. Diese Behauptung demonstriert der Text selbst: "Ich weiß nicht, wie es kam -- aber mich packte da auf einmal wieder meine ehemalige Reiselust: alle die alte Wehmut und Freude und große Erwartung." (Herv. Á. H.) Diese Wehmut läßt sich nicht einfach aus der Enttäuschung des vorigen Tages ableiten, die Ambivalenz ist ja die wichtigste und alle weiteren Außerungen und Verhaltensweisen regierende Eigenschaft des Taugenichtswesens. Andererseits besitzt aber der Taugenichts auch die Fähigkeit, die Wehmut der Freude unterzuordnen und die Störfaktoren wenigstens für eine gewisse Zeit auszuschalten: Der Bauer verweist ihn plump, als er sich nach Italien ("wo die Pomeranzen wachsen"[19]) erkundigt. Eigentlich ist hier die Kontaktaufnahme und so der Übergang zwischen zwei Sphären gescheitert, und dieses Moment liefert wieder einen Beweis dafür, daß die Welt des Taugenichts und die der anderen inkompatibel sind.

Der Taugenichts wäre aber kein Taugenichts, wenn sich seine Traumwelt nicht durchsetzten könnte, indem er die ironischen Worte des Portiters wortwörtlich nimmt: "Italien ist ein schönes Land, da sorgt der liebe Gott für alles, da kann man sich im Sonnenschein auf den Rücken legen, so wachsen einem die Rosinen ins Maul, und wenn einen die Tarantel beißt, so tanzt man mit ungemeiner Gelenkigkeit, wenn man auch sonst nicht tanzen gelernt hat." Die Heiterkeit der Wanderung (a: "nach Italien, nach Italien!") kann leider nicht lange aufrechterhalten werden (es ist im Licht der erwähnten Ambivalenz nicht überraschend) -- derselbe Bauer weckt den Taugenichts mit den Schimpfworten "Er Faulenzer!"[20] brutal auf, was als eine Imitation der väterlichen Geste im Text fungiert. Diese Begegnung verursacht dem Taugenichts "eine so kuriose grausliche Angst", daß er panikartig davonläuft und sich den ganzen Tag herumirrt, bis er wieder unter Menschen kommt und sein Musizierenkönnen präsentieren kann (c).

In dieser Szene bietet sich ihm die Möglichkeit des glücklichen Lebens im Bilde eines schönen Mädchens ("ich konnte da mein Glück machen"), die ihm wegen der Untauschbarkeit der schönen gnädigen Frau als Signifikat als Alternative nicht in Frage kommt. Die Heirat mit der "Jungfer", die ihm übrigens eine Rose schenkt (!) wäre mit dem Herabsetzen seiner Person identisch (sozusagen als Gegenpol zu seinem Traum "wenn ich ein Kavalier wäre") und als solche führte sie zu keinem Idealzustand. ("Nennen Sie mich nicht nur immer Er".) Er muß also weiter und gelangt in eine für den Leser komische Situation, wo sich wieder die Unvereinbarkeit des Kindertraumes und seiner eventuellen Realisierung behauptet. Er hatte als Kleinkind von der Mutter viele Geschichten "von wilden Wäldern und martialischen Räubern" gehört und wünschte sich heimlich, so etwas selbst zu erleben. Jetzt aber, wo er nahe wäre, eine Verwirklichung des Traumes zu erleben, rutscht ihm das Herz in die Hose. Diese Szene darf nicht einfach als eine Erläuterung zu seiner Feigheit oder zum unheldenhaften Benehmen übersehen werden, sondern soll in den Kontext von Märchen/Roman bzw. Träume/Wirklichkeit gesetzt werden. Ein Traum kann nur bis zur Realisierung als Traum existieren bzw. eben deshalb kann/darf er nicht realisiert werden, weil er ein Traum ist. Deswegen darf der Leser nicht erwarten, daß der Taugenichts in Rom den Rom der Pomeranzen erkennt oder die Heimkehr der Wanderung ein idyllisches Ende setzt und die Erfüllung aller Träume bedeutet.

Andererseits arbeitet die Umgebung mit keinen Märchenfiguren, so entlarven sich die Räuber bald als "Maler" (d). Diese "Entlarvung" ist eine Selbstbestimmung und in dieser Hinsicht von den früheren Fällen unterschiedlich: hier gibt man dem Taugenichts eine falsche Identifizierung fertig in die Hand, die der Taugenichts deshalb bis zum Ende der Geschichte als Wirklichkeit annimmt. Mit diesem beruhigenden Bewußtsein schläft er ein (e). (Mit dem Verschwinden der Maler gerät er natürlich wieder in eine unenträtselbare Situation.)

2.6. (5. Episode)

Das Leben im Schloß zeichnet sich gleichfalls mit seinem Doppelcharakter aus: Der Taugenichts ist zwar mit seiner Position zufrieden ("wie ein verwunschener Prinz", "Tischchen, deck dich!" -- a), manchmal hat er aber das Gefühl, als ob er "von einem Schlosse im Mondschein" und "von einer alten Hexe" träumen würde. Der Brief der schönen gnädigen Frau bringt ihn aufs neue in Schwung (b): "Kommen, eilen Sie zurück!" (Sie wird in dieser einzigen Szene beim Namen genannt.) Diesen Brief, den der Taugenichts als einen Liebesbrief auslegt (es wäre gerechtfertigt, wenn er an ihn geschrieben worden wäre), löst einen bisher noch nicht erreichten euphorischen Zustand aus (c) und beinhaltet schon die nächste Fehlinterpretation (d): "Ist sie am Ende gar nicht verheiratet gewesen? dachte ich, war der fremde Offizier damals vielleicht ihr Herr Bruder, oder ist er nun tot, oder bin ich toll, oder -- >> Das ist alles einerlei! << rief ich endlich und sprang auf, >> nun ist´s ja klar, sie liebt mich ja, sie liebt mich! << " Das einzige Zeichen in diesem Briefchen, das für den Leser die Inadäquatheit dieser Interpretation verraten kann, ist der Pronomengebrauch (Sie). Nur für den Leser, muß man betonen, denn die höflichste Variante aller zu dieser Zeit gebräuchlichen Anredeformen (du, Er, Ihr, Sie) verstärkt im Auge des Taugenichts gerade die Liebesbrief-Lesart und so die Gleichsetzung seiner Person und der der schönen gnädigen Frau.

Die folgenden Umstände bilden m.E. den verworrensten und rätselhaftesten Teil der Erzählung. War er wirklich in Lebensgefahr (Messer), was wollten die Schloßbewohner mit seinem Einsperren erreichen? ("es fielen mir alle Mordgeschichten ein, die ich in meinem Leben gehört hatte, von Hexen und Räubern, welche Menschen abschlachten, um ihre Herzen zu fressen" -- er stützt sich natürlich auf Fiktionen![21]) Das alles wird nicht einmal am Ende geklärt, so kann man nicht entscheiden, inwieweit es die Fehlinterpretation des Taugenichts ist (d), aber das führt ihn zum nochmaligen Aufbrechen (e). (Eine Nebenfrage: warum er nach dem Erhalt des Briefes nach Rom weitergeht und warum nicht gleich zurückkehrt, bleibt im Text verschwiegen, instinktiv ist er trotzdem auf der richtigen Spur auf der Suche nach der schönen gnädigen Frau.)

2.7. (6. Episode)

In der Rom-Episode erreicht die Erzählung den Höhepunkt ihrer Komplexität. Die Erwartungen des Taugenichts, die Versuchung und die Gefahr erscheinen in zugespitzter Weise, demzufolge vervielfachen sich auch die Elemente des Schemas. (Es ist Sommer, die Entsprechung der Mittagsstunde! Rom ist übrigens auch räumlich vom Wiener Schloß, wo die schöne gnädige Frau zu Hause ist, am weitesten entfernt.) Im Zustand des "Wachtraumes"[22] kommt der Taugenichts in Rom an (die Wahrnehmungen und die Traumbilder verflechten sich -- a[23]), und glaubt die Stimme der schönen gnädigen Frau in einem Garten zu vernehmen (b1 -- "dasselbe welsche Liedchen" c). Er braucht vom Wesen her keine Überprüfung seiner Vermutungen, so identifiziert er die weiße Gestalt eindeutig mit seiner Geliebten ("Das war sie selbst!" -- d1). Der Versuch, ihr nachzugehen, gelingt aber nicht, und erneut wegen eines fatalen Ereignisses (er vertritt den Fuß), deshalb kann er außer des Schlafens nichts unternehmen (e).

Das Gemälde des deutschen Malers (der die Hauptfigur mit den der Zwischenposition des Taugenichts entsprechenden Pronomina du oder Ihr anspricht) erweckt in ihm neue Hoffnungen und deutet zugleich auf die konstitutive Kraft der Geschichte hin: es geht um die Abbildung der schönen gnädigen Frau (b2), die "mit der einen Hand den Schleier vom Gesicht" hebt. Durch dieses Spiel mit der Aufdeckung und Verhüllung gewinnt die Erzählung ihren eigenartigen Reiz.[24] Den letzten Anstoß erfährt der Taugenichts durch einen "fatalen Zettel" (b3), den ihm wiederum die Kammerjungfrau aushändigt. Das Auftauchen dieser Person als Mediator könnte im Rezipienten schon den Verdacht erregen, daß auf der anderen Seite nicht die schöne gnädige Frau steht. Der Taugenichts assoziiert aber nicht auf das versagte Treffen in der Nacht der Maskerade, das ebenso von dieser "schnippischen" Frau angekündigt wurde, sondern auf den "glückseligen Sonnabend" mit der Weinflasche (c). Um so größer wird sein Erschrecken, als ihn auf dem Rendezvous "eine ganz fremde Person", eine italienische Gräfin erwartet (d). Diese Enttäuschung erlaubt kein Schlafen mehr, der Taugenichts trifft gleich die Entscheidung, "dem falschen Italien [...] auf ewig den Rücken zu kehren" (e).

In dieser Szene kommt es am prägnantesten zum Vorschein, daß ihm immer ein unvorhergesehenes Geschehnis widerfährt, wenn er eine Person/Situation entlarven und deuten will. (Hier hält er die Kammerjungfrau für den Maler Eckbrecht und erwischt sie beinahe, verwickelt sich aber mit den Füßen "in den fatalen Blumenstücken" und stürzt hin.) Wie sind also diese fatalen Ereignisse zu interpretieren? Wäre es gerechtfertigt, im Wort fatal 'unglückbringend, unangenehm' den Fingerzeig einer höheren Macht zu erblicken, oder sind diese kleinen Unfälle natürliche Folgen des Taugenichtswesens und als solche gekürzte Fassungen seines Lebens, da der Taugenichts eigentlich nichts anderes macht als daß er durch die Geschichte hindurchstolpert? Diese Überlegungen würden uns zu weit führen. Vielmehr könnte es in diesem Kontext angenommen werden, daß hier fatal als 'interpretationshindernd' ausgelegt werden dürfte.

2.8 (7. Episode)

Auf der Reise mit den Studenten (a) begegnet der Taugenichts einem Geistlichen, der aus dem Schloß vorausgeschickt wurde, um den Bräutigam zu finden (b). Mit Recht bezieht das der Taugenichts auf sich selbst (c), wird ihm aber erst später bewußt gemacht und sozusagen von außen suggeriert, daß es sich um zwei Liebespaare handelt. Am Ende wird fast jedem Signifikanten das entsprechende und ihm bis dahin unidentifizierbare Signifikat zugeordnet:

Maler Guido = Frl. Flora = die Tochter der Gräfin

Maler Leonard = der reiche Graf = der Bräutigam von Flora

die schöne gnädige Frau = die Gesellschafterin der Gräfin = die Nichte des Portiers

der junge Offizier = der Sohn der Gräfin usw.

In der Schlußepisode gestaltet sich die Geschichte also ein bißchen anders als man es gewohnt ist (der Taugenichts braucht keine eigene Interpretation aufzubauen), man kann der Erzählung trotzdem nicht vorwerfen, daß sie in jeder Hinsicht befriedigende Erklärungen darbietet und sich selbst dechiffriert. (Es bleiben ungeklärte Momente -- besonders die Schloß- und Rom-Episoden betreffend -- in Hülle und Fülle übrig.)[25] Schon aus diesem Grund kann man nicht behaupten, daß sich die im Taugenichts erwachende Sehnsucht und Wanderlust nach Italien (e) paradox zu den bisherigen Geschehnissen verhalten (vgl. 3.1.) . Er hat nur dem falschen Italien den Rücken gekehrt, das richtige hat er in sich unversehrt behütet. Man würde die Taugenichts-Gesinnung verfälschen, wenn man ihm eine friedlich-ruhige Ehemann- oder Vaterrolle zuspräche. "Denn bei Eichendorff ist ein Schloß [hier das Geschenk des Grafen] nur dazu da, daß man, wenn man wahrhaft lebt, nicht in ihm lebt."[26]

3. Aspekte der narrativen Struktur

3.1. Zeitlichkeit und narrative Struktur

Aufgrund der detaillierten Textanalyse und des davon abstrahierten semantischen Modells kommen die Ähnlichkeiten und Entsprechungen der Episoden noch deutlicher hervor, was das Gefühl des Lesers verstärkt, als wäre dem Taugenichts eigentlich nichts passiert, obwohl ihm viele Abenteuer widerfahren sind. Er tritt aus der problematischen Lage immer ohne eine adäquate Interpretation aus; wenn er die entsprechenden Zeichenelementen beherrschen meint, destruiert/dekonstruiert er eine frühere Zeichenrelation. Die Episoden sind durch Konjunktionen (und) verbunden, sie bilden eine lineare Kette, die ihrerseits in die Unendlichkeit weitergeführt werden kann. Der Taugenichts kann ja keine Endstation auf seiner Reise erreichen, da in seinem Fall die Wanderung keinen Entwicklungs- bzw. Erkenntnisprozeß bedeutet. Im Endsatz "es war alles, alles gut" findet "kein endgültiges, sondern nur ein vorläufiges Geschehen seinen Abschluß". [27]

Das sich nicht entwickelnde Wesen des Taugenichts und die lineare Erzählweise stehen in einer wechselseitigen Ursache-und-Wirkung-Relation, indem die Ähnlichkeit der Episoden eine grundsätzliche Veränderung der Weltinterpretation nicht ermöglicht und umgekehrt: die Erzählbarkeit der Geschichte einer sich nicht verändernden Person kann nur durch diese unreflektierte Ich-Perspektive verwirklicht werden[28], wo die linear erzählte Geschichte keine Rückblicke und Vorblicke zuläßt. Daß es im Laufe der Erzählung einmal trotzdem passiert ("die allerschönste Dame [...] nahm auch die Gitarre in den weißen Arm und sang dazu so wundersam über den Garten hinaus, das sich mir noch das Herz umwenden will vor Wehmut, wenn mir eins von den Liedern bisweilen einfällt -- und ach, das alles ist schon lange her!" -- herv. Á. H.) läßt zwar irgendeine rückblickende Erzählperspektive annehmen, diese zeitliche/räumliche Position kann aber vom Leser nicht präzisiert werden. Schaffen also diese wehmütigen (?) Aufrufen des Narrators eine zeitliche Distanz zu den Geschehnissen, die die Dauerhaftigkeit des Glücks relativiert und liefert diese Äußerung den Beweis dafür, daß die Taugenichts-Geschichte ähnlicherweise fortzusetzen ist (a--e), und wegen der Unabschließbarkeit der linearen Kette noch weitere Enttäuschungen (d) auf den Taugenichts warten, da ihm nie gelingt, bis zum Ende der Zeichenkette zu kommen und alle Signifikate zu erfassen?

Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Eine Erklärungsalternative bietet sich z.B., wenn man die Zeit ebenso imaginär wie den Raum betrachtet. Rom und Wien der fiktiven Welt des Kunstwerks haben keinen referentiellen Bezug auf die in der Wirklichkeit existierenden Städte, demzufolge sollte man auch die Zeitangaben -- besser gesagt: Nicht-Angaben -- nicht referentiell, sondern zeichenhaft interpretieren. Vielleicht ist es am nützlichsten, wenn man das Glück und die Melancholie überhaupt nicht zu trennen versucht. Diese beiden gehen nicht nur in der Erinnerung sondern auch auf der Ebene der Ereignisse Hand in Hand, sie gehören zum Wesen des Taugenichts. Aus diesem Standpunkt wäre es gar nicht wichtig, warum er solche Außerungen wie "so lange her" tut. Euphorie und Melancholie, Sehnsucht und Erfüllung, Traum und Wachsein prägen den Doppelcharakter und die Mehrdeutigkeit der Erzählung, wo über die ambivalenten Phänomene jeder Rezipient sich selber entscheiden soll. Und letzten Endes kann die Erzählperspektive selbst als ironische Geste für den Leser und so als Spiel mit den Konventionen der Ich-Erzählung aufgefaßt werden, denn die Ahnungslosigkeit des erlebenden Ich blockiert nicht nur die Einsicht des erzählenden Ich, sondern auch die des Lesers.[29]

3.2.Aktivität und Passivität

Das abstrakte Schema hilft uns auch dabei, den Grad der Aktivität/Passivität des Taugenichts zu bestimmen. Auf den ersten Blick scheint der Taugenichts ein passiver, fauler Bursche zu sein. (In erster Linie wohnt dieser Eindruck dem Wortgebrauch inne, die Verben selbst tragen oft eine passivische Bedeutung bzw. legen den Ton auf die semantische RolleRezipient: Es kommt ein Wagen, der ihn nach Wien fährt, dort bekommt er die Gärtner- dann die Einnehmerstelle -- einnehmen ~ rezipieren --, ihm wird Wein geschickt, er liegt oft im Gras usw.) Nach dieser Lesart wäre er "eine gelenkte Figur"[30], nach der anderen Auffassung wäre es gerade der Taugenichts, der "als der Aktive erscheint"[31] oder sogar ein Selfmademan ist[32]. Margaret Gump sieht "das Taugenichtstum des Eichendorffschen Helden als ein freiwilliges, in sich selbst ruhendes, beinahe instinktmäßiges" an[33]. Die Gültigkeit des Meinungsunterschieds hebt Bormann mit einem Husarenstück auf: "Wer hat nun recht? Die Antwort ist: keiner. Der Taugenichts bleibt eine Kunstfigur, auch wenn er ich sagt; er ist weder frei noch gelenkt, er ist in Kontexte gesetzt, die vom Leser vollzogen und aufeinander bezogen werden sollen; er hat keine Bedeutung, die denotiert, entschlüsselt werden müßte; er ist komplex genug angelegt, um eine Reihe von Konnotationen freizugeben."[34] Auch das Schema zeugt von der Unhaltbarkeit dieser strikt binären Einstellung: ein Zeichen (b) und sein Anspruch auf die Deutung der Zeichen treiben die Figur in die nächste Episode. Ein Anstoß von außen und eine innere Anregung müssen notwendigerweise zusammentreffen, um den Taugenichts von seiner früheren Position zu rücken, wie es z.B. in der Anfangsszene oder beim Flüchten aus dem italienischen Schloß passiert. Im Schloß eingesperrt weiß er "gar nicht mehr", was er tun sollte. Als aber die Nachtmusik vor dem Fenster erklingt, fühlt er sich, als wenn ihm "ein Morgenstrahl plötzlich durch die Seele führe" und springt ohne weiteres Bedenken durchs Fenster.

Die Musik als befreiende Kraft bringt die Frage der Aktivität/Passivität aus einem anderen Aspekt ins Spiel. Die Geige, die "einzig gemäße Form der Mitteilung für den Taugenichts"[35] ist das "Aktionsinstrument"[36], mit dessen Hilfe die Hauptfigur wirklich aktiv auftreten kann. ("Ich, nicht zu faul, ziehe meine Geige hervor und spiele und singe sogleich frisch mit.") Zum Motivkomplex Jugendlichkeit, Frühling, Morgen gesellt sich die Fähigkeit des Musizierens,aufgrund deren er endlich auf die Hand der schönen gnädigen Frau Anspruch erheben kann:

Darum bin ich dir gewogen,
Darum wird dein Haupt geschmückt,
Weil der Strich von deinem Bogen
Öfters hat mein Herz entzückt.

Zimorski legt auch die Bedeutung der Instrumente aus dem Gesichtspunkt des Philsistertums vs Taugenichtstums aus. "Die Geige gehört zum lieder- und tanzfrohen Taugenichts, das schwerfällig wirkende Fagott zum biederen Kleinbürger"[37], also zum Portier und auch zu den ebenfalls Blasinstrumente spielenden Prager Studenten -- der eine steht mit dem Portier in Verwandtschaft! --, die eher das Lohnmusizieren bevorzugen und eigentlich ein ruhiges Zuhause besingen ("Beatus ille homo..."), während der Taugenichts "nur so aus Freude" spielt.[38] Kein Zufall, daß selbst die schöne gnädige Frau und der "Maler Guido" auf der Gitarre oder Zither "klimpern" (Saiteninstrumente!).

3.3. An der Grenze von zwei Existenzformen

Das Verhältnis von Aktivität/Passivität steht mit dem Problemkreis des Künstlertums in engster Verbindung. Im Folgenden wird erörtert, wie der Taugenichts eine Zwischenposition zwischen zwei Existenzformen (Künstlerexistenz und Alltagsleben) einnimmt. Damit wird wiederum die herkömmliche bipolare Aufteilung diskutiert. An die Frage kann man m. E. am besten so herangehen, wenn man genau untersucht, aus wessen Sprechsituation und Gesichtspunkt die Taugenichts-Gestalt und ihre Identität geformt werden; wie er sich selbt wahrnimmt und was von ihm gehalten wird. Die Namengebung ist ja auch eine Projektion des Interpretationsproblems.

So erhält die Anfangsszene nicht nur aus dem Aspekt der Märchenhaftigkeit eine große Bedeutung. Die Benennung Taugenichts setzt -- wie gesagt -- die Geschehnisse in Gang, teils aber dadurch, daß im Auge des Taugenichts sein eigener Quasi-Name (Signifikant) ein ganz anderes Signifikat besitzt. Das Wort Taugenichts enthält nämlich -- je nach Figuren -- verschiedene Konnotationen: die dem abwertenden Sinne am nächsten stehende Verwendung wird vom Vater, vom Gärtner, vom Portier und vom Bauern vertreten. Aus dem ersten Gesang des Taugenichts ("Wem Gott will rechte Gunst erweisen") entfaltet sich demgegenüber eine merkwürdige Situation: diejenigen, die ums alltägliche Brot ein Leben lang arbeiten, erscheinen als Träge. Die Konfrontation mit der (für ihn) fremden Welt der Erwachsenen, der zielstrebigen, trotzdem (oder daher) sinnlosen Arbeit wird im Sinnbild der Mühle ausgedrückt: "Das Rad an meines Vaters Mühle brauste" (schon im Anfangssatz) bzw. "Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort". (Die Mühle erscheint auch im ersten Roman Ahnung und Gegenwart von Eichendorff, und in seinem literaturhistorischen Werk weist er auf den ähnlichen Gedanken von Novalis hin.)

Es wäre trotzdem eine verfehlte Leserhaltung, im Taugenichtstum eine absolut in sich ruhende, von der Wertvorstellung der "äußeren" Welt unabhängige freie Künstlerexistenz zu erblicken. Ein beträchtlicher Teil der Fachliteratur hatte zum Ausgangspunkt, die Taugenichts-Figur und ihr Benehmen nur einem Pol einer Opposition zuzuordnen.[39] Dieses -- m. E. nicht gerechtfertigte -- Zuspitzen der Frage auf eine Entweder-Oder Alternative, die hermetische Abgrenzung der Welt der "Trägen" und der des frei herumvazierenden Künstlers führt zu solchen Ansichten, nach denen der Taugenichts ein unabhängiges Künstlergenie wäre, oder aber er am Ende der Geschichte der biedermeierlich-idyllischen Welt sich anpassen würde. Carel ter Haar deutet z. B. den Taugenichts als "eine Verkörperung der Poesie selber".[40] Das Taugenichts-Wesen entfaltet sich aber gerade aus der Verschmelzung der beiden Existenzformen, seine Einstellung zur eigenen Lebensführung (Zentralfrage: wer führt wen oder was) finde ich durchaus ambivalent: er scheint immer zwischen der prosaischen Welt der "Trägen" und dem freien, sorglosen Vazieren zu schweben.

Er ist, wie die anderen, gerne bereit, am großen Theater der Welt, am Rollenspiel teilzunehmen (es besteht aber ein großer Unterschied: vgl. Märchenfigur vs Romanfigur, 1.2.). Er braucht seine Prinzipien nicht zu verleugnen (weil er keine Prinzipien hat), um die Gärtner- oder Einnehmerstelle, später die Rolle des Begleiters der "Maler" anzunehmen (mitsamt Frack und Weste). "Das alles hatte ich mir schon einmal gewünscht, als ich noch zu Hause war, wo ich immer unsern Pfarrer so bequem herumgehen sah" -- äußert er sich über den "prächtigen roten Schlafrock mit gelben Punkten, grüne Pantoffeln", über die Schlafmütze und die Pfeifen, die dem Einnehmer attribuieren. Selbst der Schlafrock (und andere Kleidungsstücke) als "Wahrzeichen der Philisterei und spießbürgerlichen Nützlichkeit, wird noch poetisch, funkelt geradezu von Farben, an denen sich hier das kindliche Gemüt unbeschwert von allen bürgerlichen Sorgen zu erfreuen vermag" -- stellt Benno von Wiese sehr zutreffend fest.[41] Der Gedanke läßt sich weiterführen: das Kind spielt nämlich ohne das Bewußtsein des Spielens, es nimmt das Spiel, die das Leben der Erwachsenen nachahmende Spielsituation geradeso ernst wie die Erwachsenen das Leben selbst.

Und eben diese Kleidungsstücke sind es, die vor dem Bauern seine Reputation zu verteidigen berufen sind. In dieser Szene fingt sein Traum an, sich beinahe zu einem Alptraum zu verwandeln, wo das Brausen und Rumoren der Mühle das Gefühl der Drohung und Gefährdung im Taugenichts erwecken. Dieses Rumoren, das den Leser auf den Vater assoziieren läßt, erweist sich als Schimpfen des Bauers: "Er Faulenzer!" Durch die Benennung wird klar, daß die Vaterfigur mit dem Verlassen des väterlichen Hauses nicht eliminiert werden konnte. (Vgl. der Taugenichts appelliert an die Einnehmeruniform -- ein Kind gegenüber dem Vater). Zwei Druckseiten nach der Bauernszene werden ganz andere Konnotationen von Faulenzer hervorgerufen, der Taugenichts betrachtet den blasenden Hirten neidisch: "wer es so gut hätte wie so ein Faulenzer! Unsereiner muß sich in der Fremde herumschlagen und immer attent sein." Das Faulenzen korreliert hier mit dem Musizieren, was auch das wichtigste Merkmal des Taugenichts ist. Der Neid bedeutet aber nicht, daß er letzten Endes den Vorwurf des Bauern auf sich nehmen würde. Indem er über das "Immer-attent-Sein" klagt, weist er beide Extreme zurück: Er kann weder fest auf einer Stelle sitzenbleiben noch sich ewig herumtreiben. (Immer attent heiße 'immer wachsam, aufmerksam', was seinen Eigenschaften absolut gegensätzlich wäre, er kann dem Schlafen nie widerstehen.)

So erscheinen auch die Worte des Malers Eckbrecht ziemlich ironisch: "Wir Genies [u. a. er und der Taugenichts wären darunter zu verstehen] machen uns aus der Welt ebenso wenig als sie sich aus uns" usw. Aus dieser höchst geschwollenen konfusen Rede entfaltet sich auch für das "Genie" die Gefahr eines bürgerlich-kleinlichen Lebens ("zukünftige Kindergesichter"), aus diesem Gesichtspunkt kommt die Gegenwart ("noch mitten in Rom auf der Piazza del Popolo") lächerlich idealistisch vor. Kein Wunder, daß vor diesem "wilden Gerede" dem Taugenichts graut, der dieses Geschwätz, den Genie-Gedanken für sich selbst nicht anpassend ansieht.

Der Unterschied zwischen Künstlertum und Taugenichtstum kommt aus dem Dialog mit dem anderen Maler deutlich hervor: "Ich treibe, erwiderte ich, mich selbst ein bißchen herum, um die Welt zu sehn. -- So, so! versetzte der junge Mann und lachte laut auf, da haben wir ja ein Metier. Das tu' ich eben auch, um die Welt zu sehn und hinterdrein abzumalen." Der Maler ergänzt die Antwort des Taugenichts mit einer Aussage, die auf den Taugenichts nicht mehr zutrifft (aller Wahrscheinlichkeit nach ist sich der Maler der Situation bewußt).

Das Dichtersein erfordert eine gewisse Bewußtmachung der umgebenden Prozesse: Ein Dichter sollte zugleich Lehrer und Wahrsager sein (Wilhelm Meister), auch bei Novalis soll Poesie "aus der alten, ungebrochenen Einheit von Sänger, Priester und Prophet hervorgehen".[42] Der Prophet ist aber der Mensch, der die offenbarten Zeichen deuten kann, jemand, der dazu fähig ist, den Signifikanten die entsprechenden Signifikate zuzuordnen. Eine solche Aufgabe kommt aber eben dem Taugenichts nicht zu. Daß er ein Sänger ist, läßt sich nicht bestreiten, er kann aber nicht als ein inventorischer Poet charakterisiert werden. Zwar weisen einige seiner Lieder improvisatorische Züge auf, er selbst schreibt keine neuen Lieder, sondern singt schon vorhandene auf seine naiv-animalische Art nach wie die Vögel.[43] ("Mir fiel dabei auf einmal ein altes Lied recht aufs Herz, das ich noch zu Hause auf meines Vaters Mühle von einem wandernden Handwerksburschen gelernt hatte". Auch die vornehme Gesellschaft im Kahn erwartet von ihm echte Volkslieder.)[44]

Er hält sich selbst weder für einen Dichter noch für einen Alltagsmenschen. Dieses Gefühl der Zwischenposition liegt m. E. seinen trübseligen Grübeleien zugrunde, denen er manchmal verfällt und sich über seine Einsamkeit beklagt, während jeder "sein Plätzchen auf der Erde ausgesteckt" hat, "seinen warmen Ofen, seine Tasse Kaffee, seine Frau, sein Glas Wein" hat und "so recht zufrieden" ist. Sein wehmütiges Stöhnen "Mir ist's nirgends recht." beweist, daß er seine Lage auf irgendeine Weise erkennt: "Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht auf mich gerechnet."

Das Motiv der Verspätung macht ihn mit der Gestalt von Don Quijote verwandt, der seine Scheinwelt als eine reale annimmt (es sei angemerkt: es ist ebenso keine selbsterfundene Welt, sondern hat ihr literarisches Vorbild -- die Ritterromane -- wie z. B. beim Taugenichts die Vorstellung über die schöne gnädige Frau als Magelona). Der Quijote war übrigens "eine der Leitfiguren für den Idealismus der Frühromantik."[45] Im Taugenichts ist auch die komplementäre Figur von Don Quijote zu entdecken: "Es wird keinem an der Wiege gesungen, was künftig aus ihm wird, eine blinde Henne findet manchmal auch ein Korn, wer zuletzt lacht, lacht am besten, unverhofft kommt oft, der Mensch denkt, und Gott lenkt, so meditiert' ich" -- als kämen diese volkstümlichen Sentenzen aus dem Mund des ähnlicherweise kindlichen Sancho Panza. (Die Redewendung spiegelt übrigens kein individuelles Weltbild wider.)

Die Vorstellungen des Taugenichts, was für Werte in seiner Umgebung hochgeschätzt und was für Eigenschaften negativ beurteilt werden, bleiben weiterhin sehr naiv, er reagiert verdrießlich auf die Worte des Geistlichen: "Der Bräutigam ist ein moralischer, schlanker, hoffnungsvoller Jüngling, der in Italien in einem alten Schlosse auf großem Fuß gelebt hat, der mit lauter Gräfinnen, berühmten Malern und Kammerjungfern umgegangen ist, der sein Geld sehr wohl zu Rate zu halten weiß, wenn er nur welches hätte, der--". Die Gräfinnen, Maler und Kammerjungfrauen werden also auf der gleichen Ebene behandelt, interessanter ist aber für uns, daß Eigenschaften wie moralisch [+innen] und schlank [-innen] auf der gleichen semantischen Achse liegen -- für den Taugenichts sind diese Eigenschaften gleichwertig, was für den Leser und den Alltagssprecher nicht unbedingt der Fall ist. Dieses Moment rekurriert auf die oben erwähnte kindliche Gedankenwelt. In den Vorstellungen der Kinder stehen innere und äußere Eigenschaften in fester Verbindung: das Schöne ist das Gute, das Häßliche ist das Böse. (Eine ähnliche Situation läßt sich im Falle der schönen gnädigen Frau beobachten: sie ist "so schön" "und ich so arm [...] und verspottet und verlassen von der Welt", wo für den Leser semantisch kompatible Charakteristika in asymmetrische Opposition gestellt werden, d.h. schön bzw. arm, verspottet, verlassen einander ausschließen.)[46]

Diese eigenartige Weltauffassung wäre an und für sich noch nicht konfus, da sie sich in der Gedankenwelt der Hauptgestalt stabil und einheitlich hält. ("Nun wahrhaftig, und wenn der bis ans Ende der Welt reist, er ist und bleibt ein Narr!", faßt der Portier seine Meinung kurz und bündig zusammen.) In dem Moment aber, wo sie mit anderen Meinungen in Kontrast gestellt wird (der Bräutigam geht "in der Nacht gassatim" und schläft "am Tage vor den Haustüren" bzw. "der Bräutigam wäre ein großer, überaus reicher Herr") entsteht gleich die "Konfusion", die letztendlich auf den Unterschied von Märchenwelt/Romanwelt zurückgeht. Kein Wunder, daß der Taugenichts das Wort konfus in den Italien-Szenen benutzt, in denen die Romanwelt am meisten ironisiert wird: Die starre Gekünsteltheit des "sinnreichen Tableaus", die auf der Beschreibung des "seligen Hoffmanns" über das Hummelsche Bild basiert oder die Namenwahl der adeligen Geliebten, aufgrund deren der Taugenichts Leonardo da Vinci und Guido Reni mit ihnen identifiziert, bringen zum Ausdruck, daß sich eine umgekehrte Mimesis vollzieht, weil für die anderen -- meist adeligen -- Figuren das Leben die Kunst nachahmt.[47]

Die Herrschaften leben im Bewußtsein der Möglichkeiten, die sich aus der Opposition zwischen Sein und Schein ergeben und benutzen sie auch selbstgefällig -- manchmal aufs Konto des Taugenichts, so daß er öfters sein Aufbrausen darüber äußert: "Ich hätte am Ende weinen mögen vor Arger über den ganzen Spektakel".[48] Das Rollenspiel, die Theaterhaftigkeit stören ihn deshalb so sehr, weil er -- während die anderen ihre ganze Umwandlungskunst dem Taugenichts demonstrieren -- mit sich selbst identisch bleibt.[49] Im italienischen Schloß befindet er sich z. B. plötzlich vor einem Spiegel, wo er konstatiert, daß er "grade noch so ein Milchbart" ist[50], wie er zu Hause gewesen war. Der Spiegel, dieser alte Topos wirft immer die Frage der Selbstidentität bzw. Gespaltenheit auf. Hier passiert keine Spaltung des Subjekts, er ist "wahrhaftig noch ganz der alte, ohne allen welschen Beigeschmack!" -- lacht Fräulein Flora am Ende, auch die Umwelt reflektiert auf die naive und demzufolge einheitliche Persönlichkeit. Nach dem Weltbild des Taugenichts wären die Personen nicht substituierbar. Aus dem Gesichtspunkt der Romanhelden ist die Austauschbarkeit nicht nur möglich, sondern manchmal notwendig: Fräulein Flora und der Graf lassen den Taugenichts in der Rolle der verkleideten Flora mit der Postkutsche weiterfahren, um die Verfolger zu täuschen.

Daß der Taugenichts selbst zum Mitspieler eines Romans, praktisch zum Zeichen wurde, ist nicht mit dem Fall von Wilhelm Meister oder Heinrich von Ofterdingen gleichzusetzen. Wilhelm erhält im Turm seinen Lehrbrief, der die Geschehnisse der Lehrjahre beinhaltet, Heinrich entdeckt beim Grafen von Hohenzollern ein Buch, das "sein Ebenbild in verschiedenen Lagen" darstellt. Daß der Held Teilnehmer einer inneren Narration ist, öffnet den narrativen Horizont in die Unendlichkeit. Im Falle des Taugenichts sichert nicht der Roman, sondern das Märchen die Unendlichkeit, die aber eine linear-horizontale ist, während man sich in den beiden Bildungsromanen immer mehr nach innen bewegt.

Die schöne gnädige Frau vertritt auch eine Zwischenposition in der Erzählung (jetzt nicht nur im gesellschaftlichen Sinne). Sie lebt weder ganz in der Welt des Taugenichts noch gehört sie zu den Herrschaften, die von der Manipulation mit den Zeichen maximal Gebrauch machen. "Die schöne gnädige Frau war unterdes [nach dem mit Ironie beladenen Sermon des Grafen und während der Bekränzung des Taugenichts] noch immer still und mochte gar nicht die Augen aufschlagen vor Scham und Verwirrung. Oft kam es mir vor, als zürnte sie heimlich über das viele Gerede und Spaßen. Endlich stürzten ihr plötzlich Tränen aus den Augen, und sie verbarg ihr Gesicht an der Brust der andern Dame. Diese sah sie erst erstaunt an und drückte sie dann herzlich an sich." Man hat die Vermutung, daß die schöne gnädige Frau im Gegensatz zum Taugenichts die Spielereien und den Sinn des Rollenwechsels zu verstehen vermag, selbst aber nicht fähig ist, am Spiel sorglos teilzunehmen. Der Meinung von Müller (die neckische Flora behandelt den Taugenichts "wie ein Kuriosum, über das man befugt ist, sich lustig zu machen" und dies erregt die Betrübnis der schönen gnädigen Frau)[51] läßt sich vielleicht hinzufügen, daß die schöne gnädige Frau auch sich selbt mißhandelt fühlt und ihre Person und Gefühle auch zum Objekt des Spiels wurden.

Es wäre die Mühe wert, die Untersuchungen auch auf die Beschreibung der anderen Figuren vom Taugenichts auszudehnen. Er bedient sich dabei nur weniger Systeme (Vogel- und Blumenmetaphorik[52], sowie Charakterisierung nach der Nase), die aber in sich eine große Vielfalt aufweisen. (Rose, Lilie, Tulpe, Goldammer, Eule, Kranich usw.) Die Vogelbezeichnung bezieht er sich natürlich auch auf sich selbst. Das "Schwebende und Ungebundene in seinem Lebenslauf", das ihn den Vögeln ähnlich macht, spielt auf die Bibel an: "Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen, und euer himmlischer Vater nährt sie doch." Matth. 6, 26.[53] Anhand dieses Momentes kehrt die Analyse zum Themenkreis Glückskind-Existenz, Märchenfigur, Naivität, Kindhaftigkeit zurück.

4. Skeptische Weltinterpretation

Diese großartige Erzählung arbeitet schon mit der Skepsis der Spätromantik. Sie stellt in einer herzerfreuenden, humorvollen Weise dar, daß die Weltinterpretation eine äußerst akzidentielle Sache ist, die nie eine der Wirklichkeit entsprechende 1:1 Relation zwischen den Zeichenelementen herstellen kann. [54] Es ergibt sich aber die Frage, ob so dem Taugenichts nicht ein besseres Schicksal als seinen "Altersgenossen" zuteil wurde. Im Taugenichts entstehen keine unauflösbaren Probleme wie z. B. in den Hoffmann-Figuren, die die Unmöglichkeit der Erkenntnis entdecken, was sie oft in den Wahnsinn treibt. Die kindliche Naivität des Taugenichts bewahrt ihn vor solch einem Schicksal; da er kein Künstler ist, korreliert bei ihm die Weltinterpretationsproblematik nicht mit der Künstlerproblematik. Diese Tatsache sollte aber nicht zu der übereilten Beurteilung führen, diese Erzählung wäre eines der am leichtesten zu enträtselnden, eindeutigsten, durchschaubarsten Werke der Weltliteratur. Sie hinterläßt nicht leicht oder gar nicht zu beantwortende Fragen, die den jeweiligen Rezipienten zu weiterem Nachdenken anregt. "Es gehört geradezu zu den klassischen Qualitätsmerkmalen, daß Dichtungen nicht ein für allemal preisgeben, was sie >eigentlich< bedeuten, daß sie sich nicht in diesem Sinne >identifizieren< lassen."[55]

Bibliographie

Fußnoten

[1] Terminus nach Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main 1993. S. 13
[2] Kindlers Literaturlexikon. Chefredakteure: Gert Woerner, Rolf Geisler und Rudolph Radler. Bd. 5. Darmstadt 1971. S. 4338
[3] Hier wird keine vollständige Diskussion der romantischen Asthetik angestrebt, es werden nur einige Bemerkungen zu den für das Thema relevanten Fragen gemacht.
[4] Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. Stuttgart 1988. 112 S.
[5] Benno von Wiese: Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: B. v. W.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Düsseldorf 1956. 79--96.
[6] Ansgar Hillach: Aufbruch als novellistisches Ereignis. Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts (1826). In: Deutsche Novellen von der Klassik bis zur Gegenwart. Hrsg. Winfried Freund. München 1993. 73--83.
[7] Alexander von Bormann: Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart 1988. 339--379.
[8] Bormann: a. a. O., S. 361
[9] Wiese: a. a. O., S. 82
[10] A. Müller: Die vierfache Wurzel des Taugenichts. Eine Begriffsbestimmung des Eichendorffschen Romanhelden. In: Études Germaniques 45 (1990), avril-juin 130--151.
[11] Hillach: a. a. O., S. 77
[12] "Der Morgen, das ist meine Freude", sagt der Taugenichts.
[13] Hier sei auf weitere romantische Erzählungen wie Das Marmorbild von Eichendorff, Der Sandmann oder Das öde Haus von E. T. A. Hoffmann hingewiesen, wo die Mittagsstunde (neben der Nacht) mit dem Erscheinen des Dämonischen verbunden ist.
[14]Vgl. Carel ter Haar: "Die Lilie ist sowohl festes Attribut des Minnesangs und der Marienlyrik als auch die Liebes- und Grabesblume des Volksliedes". Zitiert nach Walter Zimorski: Eichendorffs Taugenichts -- eine Apologie des Anti-Philisters? In: Aurora 39 (1979), 155--175. weiterhin: "wo soll das am Ende noch hinaus mit dir, du arme Null? Ohne sie, diese schlanke Eins und alles, bleibst du doch ewig nichts!", wo die Wendung Eins und alles wiederum das Göttliche evoziert. (Ohne eine zu große Rolle der Zahlmystik zuzuschreiben möchte ich hier darauf hindeuten, daß sich der heilige Akt des Aufeinandertreffens der schlanken Eins und der "armen Null" im 10. Kapitel ereignet: 1+0 10.)
[15] 7. Kapitel, 6. Episode
[16] Vgl. Oskar Seidlins geniale Textanalyse Der Taugenichts ante portas. In: O. S.: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1978. 14--31.
[17] Auch diese Episode ist viel komplizierter als es hier dargestellt wird. Die Analyse geht jetzt auf die Unterteilung E4' + E4'' + E4''' nicht ein.
[18] Bormann: a. a. O., S. 349
[19] ironische Anspielung auf den Wilhelm Meister! (Mignons Lied: "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn")
[20] vgl. 2.6., Episode 5 und 2.7., Episode 6 (Rolle der Pronomina)
[21] intertextuelles Muster (wie die "Pomeranzen" oder der Hinweis auf Hoffmann)
[22] Hier nicht im Lukácsschen Sinne; er bezeichnet damit "die utopische Dimension" dieser Erzählung. (Bormann: a. a. O., S. 367)
[23] vgl. 2.3., Episode 2.
[24]Vgl. das Märchen von Hyazinth und Rosenblüte von Novalis (In: Die Lehrlinge zu Sais). Der Junge verläßt seine Geliebte für die Erkenntnis, wenn er aber den Schleier "der himmlischen Jungfrau" hebt, erblickt er Rosenblütchen. Diese Allegorie repräsentiert die frühere Harmonie der rationalen und der intuitiven Weltauffassung. Der Taugenichts versucht auch eine solche Einheit zu schaffen, das gelingt ihm aber nie.
[25] Die Szene der Enthüllung ist außerdem intertextuell gestaltet (Webers Freischütz), das Erzählte weist also auf weitere Signifikanten und Signifikate hin (vgl. auch Hoffmann bzw. das Gemälde unter 3.3.)
[26] Oskar Seidlin: Eichendorff und das Problem der Innerlichkeit. In: O.S.: Klassische und moderne Klassiker. Göttingen 1972. 61--82.
[27] Herbert Anton: Dämonische Freiheit in Eichendorffs Erzählung Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Aurora 37 (1977) 21--32.
[28] Zur Markierung der Unreflektiertheit führt Rodewald den Terminus Quasi-Erzähler ein. (S. Bormann: a.a. O., S. 371)
[29] Bormann nennt diese Erzählform all ihre Eigentümlichkeiten in acht nehmend Taugenichts-Roman (vgl. Anm. 7)
[30] Bormann zitiert Rodewald (Bormann: a. a. O., S. 371)
[31] Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Bd. 3. München 1989. S. 202
[32] Müller: a. a. O., S. 148
[33] zitiert nach Bormann (Bormann, ebd.)
[34]Bormann, ebd.
[35] Wiese: a. a. O., S. 89
[36] Hillach: a. a. O., S. 80
[37] Zimorski: a. a. O., S. 167
[38] Der Refrain "Beatus ille...", da er seinerseits eine Horazsche Reminiszenz ist (Epoden 2,1), wirft wieder ein Licht auf den Unterschied zwischen Sein und Schein. Diese Epode ist eines der schelmischsten Gedichte von Horaz, indem die Schwärmerei von der Glücklichkeit und Sorglosigkeit des dörflichen Lebens in den letzten Zeilen als Worte eines Wucherers sich entpuppt. Ahnlicherweise kann man das Lied der Prager Studenten (und eigentlich das ganze Kapitel, die Studentenszene) als ein doppelbödiges interpretieren, das eine Lebensart und zugleich deren Kehrseite ironisch evoziert.
[39] vgl. 3.2 (Rodewald, Gump)
[40] zitiert nach Bormann (Bormann: a. a. O., S. 369)
[41] Wiese: a. a. O., S. 87
[42] Kindlers Literaturlexikon. Ebd., S. 4339
[43] Vgl. Weöres Sándor: A dal madárrá avat.
[44] "Der Taugenichts wird bekränzt wie in der Antike Dichter und Helden, doch nicht mit Lorbeer schmückt man sein Haupt, sondern mit Myrte,die dem keuschen, phantasievollen Jüngling gar wohl aussteht." Müller: a. a. O., S. 145
[45] Hillach: a. a. O., S. 79
[46] Termini nach Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. München 19933 . 472 S.
[47] Vgl. noch dazu das Lied aus dem Freischützen und die Erklärung von Leonard: "wie sich's von selbst versteht und einem wohlerzogenen Romane gebührt: Entdeckung, Reue, Versöhnung". (Herv. Á. H.)
[48] der Spektakel: etymologisch aus dem Wort das Spektakel
[49] Im Märchen -- im Gegensatz zum Roman -- gibt es übrigens keinen gemischten Charakter, nur schwarzweißgemalte Figuren.
[50] "nur auf der Oberlippe zeigten sich erst ein paar Flaumfedern" Die Komik dieser Situation kristallisiert sich erst im letzten Kapitel heraus, in dem er erfährt, daß er im Schloß für ein Mädchen gehalten wurde.
[51] Müller: a. a. O., S. 134
[52] er wird als Gärtner eingestellt!
[53]zitiert nach Gero von Wilpert: Der ornithologische Taugenichts. Zum Vogelmotiv in Eichendorffs Novelle. In: Elemente der Literatur. Beiträge zur Stoff-, Motiv- und Themenforschung. Hrsg. von Adam J. Bisanz und Raymond Trousson. Stuttgart 1980. Bd. 1. 114--128. (Bei ihm wird das Vogelmotiv ausführlich behandelt.)
[54] vgl. Unendlichkeit der Geschichte
[55] Bormann: a. a. O., S. 348--349.



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