PALIMPSZESZT
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BALOGH Endre
Deutschsprachige Poetiken im 17. Jahrhundert, unter besonderer Berücksichtigung deren von G. Ph. Harsdörffer

  1. Sprachtheoretische Überlegungen in den Poetiken
    1. Einleitung
    2. Die Vielfalt der Theorien betreffs der Ursprung der Sprachen und die Frage der Motiviertheit des sprachlichen Zeichens
  2. Wissenschaften, die die Poetiken betreffen
  3. Schlußbemerkungen: Zusammenfassung und Ausblick
  4. Literatur
"Bach hatte die Kunst der Fuge (BWV 1080) nicht mehr vollenden können. Er hatte den Kontrapunkt auf verschiedene Weisen rectus und inversus durchgeführt, Kanons und Spielfiguren geschrieben, die Fuga a 3 Sogetti aber nicht mehr zu Ende gebracht. Als er nun auf dem Sterbebett lag, befand sich ein Buch unter seinem Kopfkissen. Es war nicht die Bibel, sondern die Dissertatio de Arte Combinatoria, Autore Gottfredo Guilielmo Leibnüzio."
(Künzel-Bexte, 116)

I. Sprachtheoretische Überlegungen in den Poetiken

1. Einleitung

Die sprachphilosophische und sprachtheoretische Grundlage in den deutschen Barockpoetiken bilden eine beträchtliche Summe ihrer Feststellungen. Wenn man diese genau beobachtet, findet man eine abwechslungsreiche Vielfalt solcher Theorien, die für uns heute ein bißchen fremd vorkommen.

In den von mir untersuchten Werken ist das wichtigste Merkmal der sprachreflexiven Überlegungen, daß sich die Autoren sehr stark für die Ursprung der menschlichen Sprache interessieren.

Im sprachreflexiven Diskurs dieser Epoche spielen zwei Bücher der Antike die wichtigste Rolle. Das sind: die Bibel, besonders das erste Buch von Moses (Gen. 2. 19-20) und Platons Kratylos-Dialog.

Nach der christlichen Tradition stammt die Sprache direkt von Adam, der allen Geschöpfen der Erde den Namen gegeben hat, und zwar in der Anwesenheit Gottes.

Denn als Gott der HERR gemacht hatte von der Erden allerley Thier auff dem Felde / vnd allerley Vogel vnter dem Himmel / bracht er sie zu dem Menschen / das er sehe / wie er sie nennet / Denn wie der Mensch allerley lebendige Thier nennen würde / so solten sie heissen. Vnd der Mensch gab einem jglichen Vieh / vnd Vogel vnter dem Himel / vnd Thier auff dem Felde / seinen namen. (Gen. 2. 19-20)

Nach der babylonischen Sprachverwirrung ist aber diese sogenannte adamische Sprache auf der Erde nicht mehr zu finden. Laut dieses Konzeptes entstanden die einzelsprachen erst nach der Sprachverwirrung. (Bei Jacob Böhme findet man trotzdem die Vorstellung der Natursprache, deren Kenntnis nur davon abhängt, ob man an Gott fest glaubt: in der mystischen Verbindung mit Gott kann die natursprache wiederbelebt werden.)

Im Kratylos-Dialog ist die Frage nach der Ursprung der Sprachen natürlicherweise nicht auf dieser Weise gestellt und das Problem auch anders gelöst. Die darin gestellte Hauptfrage ist, in welchem Maße die sprachlichen Zeichen konventionell sind. Die Antwort lautet auf zweierlei Weise: nach Hermogenes sind die Wörter vollkommen konventionell. "Jeder Name [..], den man einer Sache gibt, ist richtig", und sie sind "eine Frucht der gesetzlichen Übereinkunft und Gewohnheit" (PLATON 384). Kratylos aber behauptet, "es gebe für jedes Ding eine richtige, aus der Natur dieses Dinges selbst hervorgangene Bezeichnung", also "eine natürliche Richtigkeit der Namen, die für jedermann, für Hellenen wie Barbaren, die gleiche sei" (PLATON 383).

Sokrates vertritt die Meinung, daß nur diejenigen Wörter gut gelungenen Wörter sind, die etymologisch gut ableitbar sind wie z.B. der Name 'Agamemnon', der nach Sokrates aus den Wörtern 'agastos' und 'epimone' zusammengestellt worden ist, was soviel bedeutet wie bewundernswert im Ausharren, nämlich im Ausharren vor Troja (PLATON 395). Sokrates vertritt auch eine weitere Meinung, die in den Argumenten des 17. Jh.-s immer wieder vorkommen. Er interpretiert nämlich die Einzellaute: das r erscheint bei ihm als ein "Werkzeug jeder Art von Bewegung" (426), das l als Mittel zur Benennung "des Glatten und des Gleitens" (427), das n zur "Bezeichnung dessen, was drinnen und innerhalb ist" (427), etc.

Allerdings wird im untersuchten Zeitalter Platon - und nicht nur Kratylos - immer als Vertreter der Position der Motiviertheit des sprachlichen Zeichens interpretiert (GARDT 47).

Diese zwei antiken Texte ergeben den Ausgangspunkt aller weiteren Spekulationen.

2. Die Vielfalt der Theorien betreffs der Ursprung der Sprachen und die Frage der Motiviertheit des sprachlichen Zeichens

In Deutschland war das 17. Jh. die Epoche, in der man angefangen hat, sich mit der deutschen Sprache ausführlich zu beschäftigen (das ist schon die Epoche nach der Bibelübersetzung von Luther und den deutschsprachigen Vorlesungen von Parazelsus): in vielen Sprachgesellschaften[1] hat man sich darum bemüht, die Muttersprache mit Übersetzungen aus den verschiedenen europäischen Sprachen und aus dem Latein, sowie mit originellen Werken zu bereichern[2].

Rekonstruktion der Konzepte

A) Es gibt eine ontologisierende Hauptlinie in der Bearbeitung der angegebenen Bibelstelle, die auch mehrere andere europäische Autoren des 16. Jh.-s bewirken. Die wichtigsten sind kurz die Folgenden: Beatus Rhenanus, Theodor Bibliander, Konrad Gesner, Joseph Justus Scaliger und Johannes Goropius Becanus, die in den untersuchten Texten immer wieder zitiert werden.

Die Sprache und die Natur, sowiedie Stelle des Menschen im Sein werden dieser Vorstellung nach als Sch0pfungen Gottes aufgefaßt. Wer diese These nicht akzeptiert, der kann in dieser Frage keine Argumente für das Konzept aufführen.

In Jacob Böhmes Mystik ist nur der reine Mensch, der an Gott fest glaubt dazu fähig, die Sprache zu sprechen, die zu Gott und also zur vollkommenen Erkenntnis, zur Vereinigung mit ihm führt. Alle Sprachen haben an der Natursprache teil, analog wie die äste eines Baumes an den Wurzeln. Der Weg zu Gott und zur Sprache der vollkommensten Erkenntnis ist bei ihm durch den Glauben geöffnet.

B) Die andere, weltlichere Bearbeitung des Konzeptes der adamischen Sprache ist die ontologisierend-patriotische[3]. Das bedeutet soviel, daß auch das Deutsch an den Zügen einer in der Gegenwart Gottes entstandenen Sprache teil hat. Der Vorteil einer solchen Theorie liegt darin, daß man die Dinge der Welt durch die mentale Arbeit an der Sprache kennenlernen könnte.

Gueinz beginnt sein Hauptwerk folgendermaßen: alle Deutsche, auch die, die nicht lesen können, sprechen die Sprache, "die GOTT dem vernünftigen geschöpfe anfangs mit eingepflanzet"[4].

Der markanteste Vertreter dieser Meinung ist Philipp von Zesen, der im Rosen=Mand davon schreibt, daß das Deutsch von der adamischen Sprache herleitet werden kann. Man spricht "fast ohne sein Wissen" von "der natur und eigenschaft benennten dinges selbst" (107). Eine wichtige Folge dessen ist, daß jedes Wort "von anbeginn schon in der natur der sprache verborgen" ist und darum die größte "menschliche spitzfündigkeit" kein radikal neues Wort erfinden kann. (Es ist bemerkenswert, daß er sich die Sprache so vorstellt, daß sie ein vollkommenes, aber trotzdem offenes System bildet. Phantastisch ist auch, daß man bei der Erfindung neuer Worte im Grunde genommen keine neuen erfindet, da sie die Sprache schon immer in sich hatte, auch wenn nicht explizit!)

Zesen will diese Theorie gegen die Einführung von Fremdwörter benützen und er baut unter anderen eine den anderen Dichtern und Theoretikern fremde Rechtschreibung aus, zum Zweck der Erhaltung des "richtigen" Zustandes des Deutschen. Die Motiviertheit wird von seiner ontologisierend-patriotischen theoretischen Einstellung beeinflußt und er nimmt an, daß dem Sein die vier Uhrwesen: Wasser, Erde, Luft und Wasser zugrunde liegen. Diesen entsprechen nach Zesen die vier sogenannten "uhr-laute" folgendermaßen: das a enthält die "durchdringende kraft des wassers", das e das "sinken der erden", das u "das sanfte steigen und schweben der luft" und das o "die hohe und steigende kraft des wassers" (Rosen=Mand, 153 f.). Diese geben den vier "uhr-mitlautern" die Seele: indem sie die lautend machen, werden diese ins Leben gerufen. Die vier "uhr-mitlauter korrelieren auch den uhrwesen":

Dan b bezeuchnet die eigenschaft des wassers / und klinget auch so blatschericht: das d hat die steifheit / unbewäglichkeit / und das sinkender erde gleichsam in seinem klange: das l zeiget an die leichtheit und die dinnigkeit der luft: das s schwinget sich auch gleichsam über alle buchstaben hinauf / wie das feuer über alle andere uhrwesen
(Rosen=Mand 176)

Die Laute, die unter diesen acht nicht zu finden sind, sind aus dem System nicht ausgelassen, sondern mit manchen innerhalb des Sytems verwandt (das p und das f z. B. mit dem b). Diese Vorstellung, ich könnte gar schreiben Vision der Sprache ermöglicht wie man später noch lesen kann, eine mögliche Bereicherung des Gedichtinhaltes.

Das ontologisierend-patriotische Konzept findet auch andere Erscheinungsformen. Nach der Meinung von vielen Autoren stammt das Deutsch direkt aus dem Hebräischen, dem die adamische Sprache zugrunde lag oder mit dieser identisch war. Darüber schreibt Schottelius ausführlich in seinem Hauptwerk, in dem er das Deutsche eine "Uhrsprache" nennt, eine der fünf "Uhrsprachen". Harsdörffer hat seine diesbezügliche Meinung öfter unterschiedlich geäußert, seine Klangmalerei beruht aber auf einer ähnlichen Grundlage. Ich zitiere aus den Mathematischen und philosophischen Erquickstunden (im Poetischen Trichter befinden sich auch viele solche Textstellen[5]):

Hieraus wil vorgerühmter (?-B.E.) Becanus behaubten / daß die Teutsche und alt Sächsische Sprache die erste und älteste seye / weil in keiner andern die Wort mit der Thiere Stimmen und aller klingenden Tönung übereintreffe / als in besagter / welches Getön vermuhtlich / ohne alle änderung / von der Welt Anfang verblieben / und bis zu dem Ende verblieben wird.
(3. 1. III. Frage, S. 41)

Diesem Zitat folgt ein Gedicht, an dessen Ende die folgende typische Zeile als Fazit des Gedichtinhaltes steht: "und kan kein fremder Schmuck sich gleichen ihrer Zier." (nämlich der des Deutschen - B.E.). Harsdörffer ist stolz auf die eigene Sprache und er versucht sie gleichzeitig so darzustellen, als wäre sie eine Sprache, die der Schöpfung gleich ist - das wäre ein Beweis für das hohe Alter des Deutschen.

"Damit erhebt Harsdörffer die Klangmalerei auf die Stufe der Weltdeutung und Lobpreisung Gottes" (SZYROCKI 67). Die Klangmalerei bei Harsdörffer[6] basiert auf einer Theorie, die auch Johann Klaj und Sigmund von Birken übernommen haben und auf diese Weise in der Poesie und Poetik weitergeführt worden ist.

Andreas GARDT (349) erwähnt sogar eine Auseinandersetzung in der 'Fruchtbringenden Gesellschaft', wo es darum ging, ob die Vorfahren der Deutschen, bzw. deren Vohrfahren beim Turmbau zu Babel überhaupt anwesend waren. Harsdörffer stellte dies in Frage, Gueintz widersprach ihm. Harsdörffers diesbezügliche Meinung soll später noch ausführlicher behandelt werden, jetzt zitiere ich aber eine Stelle aus den Mathematischen und philosophischen Erquickstunden, wodurch man sieht, daß er auch die Meinung anderer beachtet und bearbeitet:

Besagter Becanus wil auch behaupten / daß die Nachkommen Japhets / von welchen auch die Teutschen herstammen / bey der Babylonischen Sprach=verwirrung nicht gewesen / weil sie lang bevor ihre Mitternächtische Länder in Besitz gebracht
(3. 1. III. Frage. S. 42)

Der babylonische Turmbau hat also ermöglicht, daß das ontologisierend-patriotische Konzept in beträchtlicher Weise in eine metaphysische Richtung bearbeitet Werden konnte.

Es gibt nur wenige, die wie Reimmann (Historia literaria antediliviana, 53 ff. in: Versuch einer Anleitung in die Historiam Literariam derer Teutschen.) eindeutig feststellen, daß die heilige Schrift keinen Hinweis darauf enthält, daß Adam den Tieren eine mit ihrem Wesen kongruente Benennung gegeben hätte.

Ohne diese Theorien würde man aber die Verankerung der Poetik und Dichtung des 17. Jh.-s in der Theologie und Sprachphilosophie nicht differenziert genug sehen können.

Die Vorstellungen über den Zusammenhang der Laute und der Dinge der Welt haben natürlicherweise auch für die Poetiken und für die Poesie selbst unterschiedliche Konsequenzen. Bei Zesen sind - wie es früher unter die Lupe genommen wurde - die Buchstaben außerordentlich wichtig, wenn wir seine Gedichte lesen. Bei ihm dürfen wir also neben der Klangmalerei, also Nachahmung der Natur durch Klänge auch Klangsymbolik suchen.

Eine Interpretation der Gedichte, die auf der Klangsymbolik basiert, ist natürlicherweise nicht immer möglich, aber wenn man Zesens oben erwähntes Konzept der "uhr-laute" und "uhr-mitlaute" kennt, ist sie auch nicht ausgeschlossen. Ein Beispiel dazu möchte ich hier aus demselben Jahr geben, in dem das Werk Rosen=Mand (1651) erschienen ist:

Juliane / zeit der jugend /
Schönstes bild der schönen tugend /
kluge Fürstin / nim doch hin [...]
(Dichterische Jugend=Flammen. 1651, In: Sämtliche Werke, Bd. 1/1, 269)

Hier dominieren das u und das i. Wenn man sich daran erinnert, daß das u "das sanfte steigen und schweben der luft" in sich hat, dann kann man daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß der wörtliche Sinn hier, nämlich das zarte Gefühl eines Mannes einem Mädchen gegeüber dadurch gestärkt wird. Das i aber "fließet aus dem e", in dem "das sinken der erden" zum Tragen kommt. In diesen Zeilen wird also die Spannung zwischen Luft und Erde, Steigen und Sinken, dem Leichten und Schweren, sowie Freiheit und Sünde zur gleichen Zeit hervorgehoben. Dem zarten Liebesgefühl steht das Wissen dessen gegenüber, daß die Frau den Dichter, den Mann auf die Erde hinunterzieht, daß das Element der Frau die Erde ist. Das ist schon viel mehr, als eine einfache klangmalende Illustration einiger Gedanken. Durch dieses Mittel gewinnt der Text an neuen Bedeutungen. Diese Methode ist vollkommen anders, als das, was Buchner, Professeor der Poetik, Philosophie und Rhetorik an der Universität in Wittenberg, auch Zesens Lehrer geschrieben hat:

Der Klang ist nichts anderes / als eine artige und wohlgereimte Zusammenstimmung erstlich der Silben / daraus die Wörter, aus welchen der Vers zusammenhänget / nach Beschaffenheit des Tuns / davon man redet.[7]

Buchners Meinung steht der von Andreas Tscherning nah: er nennt die Zesensche und ähnlichen Methoden abschätzend "onomatopoietische Spielereien", er schätzt aber die Klangmalerei. Die Vokalen sind auch bei ihm in Klassen eingeteilt, nämlich in die folgenden: "Starklautende Buchstaben" sind das a und das o, "gelinde und weiche Buchstaben" das i und das e, "in der Mitte steht" das u (Unvorgreiffliches Bedencken, 65-68). Zwar lautet es es sehr rational, ich denke trotzdem, daß diese These ärmer an Phantasie ist, als das System von Zesen und damit viel wenigere Wege den Interpreten ermöglicht.

C) Das Systemdenken (auch ordo-Denken genannt), das am besten im Werk von Leibniz charakterisiert werden kann, kann man kurz folgendermaßen beschreiben: Die Welt ist von Gott rational und gut eingeordnet und diese von Gott gegebene Ordnung kann der Mensch rational auffassen. Der Mensch bewegt sich während eines mentalen Prozesses in zwei geschlossenen Systemen, die miteinander in einer engen Verbindung stehen, nämlich in dem System der Sachen und in dem der Sprache.

EXKURS:

Darauf, welche Bedeutung das Topiksystem in der Rhetorik und in der Dichtung haben kann, hat einen Joachim DYCK in seinem Buch Ticht-Kunst aufmerksam gemacht. Dieses Konzept hat Wilhelm SCHMIDT-BIGGEMANN in der Topica universalis weiter ausgearbeitet und bewiesen, daß die barocke Philosophie nicht so sehr nur auf den res beruht, sondern auch auf den verba. Die enzyklopädischen Tendenzen[8] wurden höher als je früher geschätzt, da man in ihnen ein Mittel zur Festhaltung der Welt in einer menschlichen Konstruktion, sowie die Fixierung der Inhalte von Begriffen, also ein Mittel zur Interpretation der Welt sah. So sind Autoren wie Alsted, Kircher, Morhof und Harsdörffer auf eine Weise zu werten wie nie zuvor.

Die loci communes galten als Mittel zur findung einer Wahrheit, indem man das behandelte Objekt, worüber man schon einige Kenntnisse hatte, mit der Hilfe von den loci untersuchen konnte. "Eine Sache, deren Wesen und Eigenschaften bekannt sind, wird durch alle Loci hindurchgeführt." (SCHMIDT-BIGGEMANN 11) In der ars memoria spielten spielten sie schon seit den Griechen eine große Rolle und dies wurde wieder wichtig.

Diese Theiorie kann man mit einem Gedicht von Harsdörffer veranschaulichen:

Hier waltet der Gedächtnis Ruhm:
Ob? was? wes? wem? wohin?
woher? wie? mit was Gewinn?
wielang? wieofft? wardurch? warumb?
(Erquickstunden, 3. 1. IX. Frage, S. 52)

Dieses Gedicht ist nicht nur als eine Veranschaulichung der loci communes, sondern auch als ein Mittel des Gedächtnisses aufzufassen, weil es die die Umstände in einer rhytmischen Form enthält, mit deren Hilfe man sich die Fragen leichter merken kann.

Das sind aber gleichzeitig ähnliche Fragen wie die, die in den Poetiken vorkommen und als Umstände behandelt werden!

Dieses Konzept hatte seine Schranken. Ein vollkommenes System aufzubauen war unmöglich, da man langsam gemerkt hat wie alle Dinge der Welt miteinander verbunden sind[9]. Es wurde die Unterscheidung der Dinge immer schwerer, ich könnte schreiben: nur auf eine neue Weise möglich. Die Idee einer hierarchisch aufgebauten Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, wird von vielen Wissenschaftlern vertreten. Es gibt aber die Schranken von festgehaltenen Inhalte, da die Sachen voneinander in einem großen Maß abhängen und sich verändern so, daß eine entgültige Katalogisierung nicht gelingen kann. So entstehen die alphabetisierten Enzyklopädien.

Über den Zusammenhang der zwei Systeme, die wir auch das von den res und den verba nennen können, äußert sich Harsdörffer im dritten Teil der Mathematischen und philosophischen Erquickstunden folgendermaßen:

Eine neue Sache muß einen neuen Namen haben / und muß ein Wort unterschiedene Deutungen führen / darüber Galenus klagend / [...] wie wir einer Sache unsere Gedanken passen können / wann wir gleich solche nicht wissen zu benamen.
(3. 1. XVII. Frage, S. 63)

Dieses Zitat zeigt uns einen Menschen, der sich die Sprache so vorstellt, daß die Wörter, als Elemente der Sprache, auf die Dinge referieren und ohne Zeichen über die Dinge nicht nachdenken kann.

Die Menschliche Haltung von Harsdörffer ist aber eine rhetorsch-spielerische. Er äußert sich über die menschliche Sprache verschieden: oft, als wäre sie mit der Natur kongruent, oft nennt er die deutsche Sprache mit dem epitheton ornans "hochlöblich", ist also zu den patriotischen Theorien zuzurechnen, aber an einer Stelle im Frauenzimmer Gesprächspiele (V. 3.), wo es um die Malerei geht, ist die Malerei die einzige universale Sprache, da sie in einer viel genaueren Verwandschaft mit den Dingen steht. Über den nicht einzelsprachlich gebundenen menschlichen Verstand schreibt er auch:

und zeiget auch die tägliche Erfahrung / daß deß Menschen Verstand nicht an eine gewisse Sprache verbunden ist
(Poet. Trichter, II. Stund. [[section]]2)

Der Hintergrund dieser rhetorischen Haltung und theoretischen Vielfalt kann die Theorie sein, daß der Mensch unbedingt eine Sprache, besonders Zeichen braucht, um denken zu können. Es ist dann egal, welche Einzelsprache diese ist, so wird die Frage einer beliebigen Sprache wichtig, und nicht die der adamischen.

Es ist unter dem Reden und Schreiben ein so genaue Verwandschafft als unter dem Reden und Gedanken / massen die Gedanken nichts anders / als die Reden der Vernunft / und gleichwie die Vernunft dem Menschen allein zugeeignet ist / also ist ihm auch die Rede gegeben / und hat er allein eine breite / welche und bewegliche Zunge / wie Aristoteles lehret;
(Math. und phil. Erquickstunden, 3. 1. XVIII, S. 64)

Denk- und ein Erkenntnisprozesse, als Prozesse der Vernunft sind also ohne die Sprache unmöglich, ohne Worte "passen unsere Gedanken den Sachen nicht", da die Gedanken "die Reden der Vernunft" sind. Die Argumentation ist nach Descartes gerichtet, bei ihm ist der Unterschied zwischen dem Menschen und den Tieren, bzw. Automaten die Anwesenheit der Seele: deswegen kann der Mensch mit sprachlichen Zeichen als Sprachbenutzer frei umgehen, dadurch wird auch das Denken ermöglicht, durch die Beziehung zwischen den Dingen und der Sprache als Zeichensystem.

Von der Ursprung der Sprache hängt die Motiviertheit folgendermaßen ab: Wenn man die adamische sprache sprechen würde, wären die Zeichen motiviert, mit den Sachen kongruent. Das wäre eine von Gott gegebene Motiviertheit.

Es können zwei Arten der Motiviertheit des sprachlichen Zeichens untersucht werden. Transzendent-ontologisch ist die Motiviertheit bei den Autoren, die an dem von Gott gegebenen Zusammenhang zwischen Wort und Ding glauben.

Artifiziell ist die Motiviertheit bei denen, die eine Universalsprache bestreben, weil diese Sprachen der menschlichen Vernunft entstanden, auch wenn sie darauf beruhen, daß der menschliche Verstand die Welt in seinem eigentlichen Wesen auffassen kann. Die artifiziellen Sprachentwürfe sind meistens philosophischer Prägung und beruhen auf einer gründlichen Analyse und Kategorisierung der Welt. (Diese Art der Universalsprachen sind also mit einer internationalen Hilfssprache wie z.B. das Esperanto ist, nicht identisch.) Solche Sprachen zu entwerfen versuchten viele. Die berühmtesten sind die Entwürfe von John Wilkins, Athanasius Kircher und Gottfried Wilhelm Leibniz, Mersenne und Descartes. Die Zeichen dieser Sprachen sind meistens lautlich motiviert, damit sie einfacher memoriert werden können.

(Das dritte Konzept wäre die Unmotiviertheit, die bei manchen Autoren auch zu finden ist. )

Mit dem Systemdenken der Sprache und der Sachen hängt auch die Hochschätzung der Werke von Raimundus Lullus zusammen: In Lullus Ars inveniendi veritatem gibt es nämlich wenige Grundelemente, aus denen man ein System bilden kann, sogar Lullus selbst ein System gebildet hat. Nach der Meinung von Harsdörffer macht es einen zur Erfindung und Erkenntnis aller Sachen der Welt fähig. In den Frauenzimmer Gesprächspielen list man folgendes:

Lulls "grosse Kunst" erlaube es, "von allen Sachen reden / urtheilen / und fragen" zu können. (V., 126)

II. Wissenschaften, die die Poetiken betreffen

Das Erbe von Raimundus Lullus, des Philosophen aus dem 13. Jahrhundert im Barock ist sinnvoll zu studieren. Im folgenden werde ich das vielleicht beweisen können. Seine Philosophie wird vor allem durch Johann Heinrich Alsted[10], zuerst in seinem ersten Werk, Clavis artes Lullianae bearbeitet, das bei demselben Verlag erschienen ist, wo eine Gesamtausgabe im Jahre 1598 von Lullus, nämlich bei Zetzner in Straßburg. Der andere berühmter Bearbeiter von Lullus ist der Jesuit Athanasius Kircher gewesen[11]. Harsdörffers Erquickstunden und Kirchers Ars magna sciendi (1669) waren die Quelle der Lullschen Kenntnisse von Leibniz und Quirinus Kuhlmann, der außer seiner literarischen Tätigkeit den Plan eines enzyklopädischen Werkes in 19 Bänden entworfen hat. Daniel Georg Morhof, ein Schüler von Andreas Tscherning behandeltdie Inventionslehre von Lullus in seinem enzyklopädischen Werk Polyhistor literarius, philosophicus et practicus in einem Kapitel mit dem Titel De arte Lulliana similibusque inventis (Lib. II. Cap. V., S. 350-366).

Die Philosophie von Lullus bietet einem die Möglichkeit an, alle Dinge und Wesen der Welt in einer hierarchischen Ordnung sehen zu können, deren Glieder zugleich miteinander verknüpft sind.

Das Band der Harmonie geht von der Spitze [der Hierarchie der Wesen] bis hinab zur untersten Stufe. Es besteht nämlich eine allumfassende Freundschaft zwischen allen Dingen, an der alle teilhaben, und diese Verbindung bezeichnen viele, Homer folgend, als goldene Kette der Welt, als Gürtel der Venus oder als Band der Natur: oder auch als den Dingen gemeinsames Sinnbild
(R. Lullus: Rhetorica, hg. 1598, S. 199)[12]

Diese Tradition hat sich dadurch nur verstärkt, daß sich Lullus' Methode mit dem Buchstabenwechsel der Kabbalisten leichtlich verbinden läßt und, daß ihm in der Zetznerschen Ausgabe, das in 20 Jahren dreimal verlegt wurde ein Buch mit dem Titel: De Auditu Cabbalistico zugeschrieben wurde[13]. Zu diesem Pseudo-Lullus-Werk haben Giordano Bruno und Agrippa von Nettesheim einen Kommentar geschrieben. Nach der Veröffentlichung dieses Werkes hat man in Deutschland die Kabbala, die in Italien schon von den Neuplatonikern in den philosophischen Diskurs eingeführt wurde, auch schnell kennengelernt.

Die Kabbalistischen Buchstaben-Zahlen-Kombinationen ermöglichen auch den Weg zur Erkennung der Rolle der Mathematik und mathematischen Methoden in der Poetik, die in der Inventionslehre von Harsdörffer und des frühen Kuhlmanns - wie wir sehen werden in der Musik bei A. Werkmeister und J. S. Bach - wichtig wird. Harsdörffer selbst schreibt in den Mathematischen und philosophischen Erquickstunden von der Kabbala das Folgende:

Diese Versetzung der Buchstaben ist ein Theil von der Ebreer Cabala / und veranlast zu feinen Gedancken / vermehret die Erfindung / bringet eine Lieblichkeit und sondere Schlichtigkeit in den Gedichten / und fliessen daher Scherz= und lehrreiche Einfälle.

Diese Art der Poetischen Erfindungen ist deßwegen angenehmer / als keine andere / weil sie keinem / als von dessen Namen sie ausgesuchet ist / gemein sein kann / und schicket sie zu weilen auf die Zeit / Ort und anderen Umstände sehr artig / ohn alle Stümpeley.

Und so schreibt er weiter:

Vier Buchstaben in einem Worte können also vier und zwanzig mal versetzet werden. [...] combinationes elementorum
(2. 14. IV. Aufgabe, 514 f.)

Diese Mathematik ist noch keineswegs eine Naturwissenschaft im heutigen Sinne gewesen, aber Harsdörffer rechnet fast immer genau, was für uns heute auch ein Punkt der wichtigsten ist. Mathematik und Geheimwissenschaften hängen in diesem Zeitalter noch stark zusammen. Harsdörffer erwähnt in seinem Buch zum Beispiel einen Mann namens Johannes Hornerus, der ein "Rosenkreuzer" gewesen sein soll und sein Buch, das den Titel trägt: Problema summum Mathematicum & Cabbalae. (Math. und Phil. Erquickstunden, 2.1. XLVII., S. 33)

Harsdörffer stellt trotzdem fest, daß die Zahlen an sich "keine Krafft und Würckung" haben, aber wenn sie mit etwas in Verbindung stehen, können sie diese Eigenschaften haben.

Wil man also die Zahl betrachten / als einen Werkzeug unsers Verstandes / dessen Wissenschaft in der Ordnung / die Ordnung aber in der Zahl bestehet / so muß man sagen / daß solche nicht ohne Würckung wie der Werkzeug eines Arbeiters kräftiglich gebrauchet wird / eine Sache zu gestalten / welche aber ihr Wesen keines Weges von dem Werkzeug erhalten hat
(Erquickstunden 3.1. XXV. Frage)

Er denkt also, daß die Ordnung der Welt in den Zahlen besteht und mißt ihnen trotzdem keine mystische Bedeutung bei. Ob man ihm das wirklich glauben kann, daß weiß ich nicht. Diesem wiedersprechen seine andersartige Feststellungen, man darf aber nicht vergessen, daß eben Harsdörffer diese These formuliert hat.

Man benuntzte als "Wissenschaftler" Methoden der heutigen Mathematik, aber zur gleichen Zeit und fast immer auch bei den gleichen Wissenschaftlern sind hermetische, mystische, kabbalistische Züge zu finden, die man als organischen Teil dieser Epoche betrachten soll.

Diese, wie man sagen könnte, Unordnung ist aber für die Dichter inspirierend:

Eine zwischen die Spiele der Spätscholastik (und den Lullismus im beseondere) und die modernen mathematischen Techniken einzuordnende kombinatorische Analyse verhalf dem Dichter zu einem Verständnis dafür, wie aus einer begränzten Zahl von beweglichen Elementen sich die Möglichkeit für eine astronomischen Zahl von Kombinationen ergeben kann.
(ECO, 1993, 44)

Was Umberto Eco in Das offene Kunstwerk über Mallarmé geschrieben hat, ist auch für die Vertreter des Lullismus im 17. Jh. charakteristisch. Lullus hatte nämlich wenige Elemente auf kreisförmige Taffeln geschrieben, die man übereinander drehen konnte, woraus sich die ganze Welt der Lullschen christlichen Thelogie erklären läßt. Diese kombinatorische Methode hatte einen großen Erfolg: sie hat sogar die Mathematik von Leibniz in der Dissertatio de Arte Combinatoria (1666) beinflußt.

Lullus' Werke, die Kabbala und die Naturwissenschaften - vor allem die Mathematik - eröffneten neue Wege und Methoden für Harsdörffer und seine Zeitgenossen, über die man in Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey nur sehr wenig oder gar nichts lesen kann.

Exkurs:

Neue Aspekte der Inventionslehre werden so eröffnet, die nicht nur in den Rahmen der Poetiken und Rhetorikliteratur des Zeitalters bleiben, sondern auch in der Musik, und zwar bei dem heute berühmtesten Komoponisten, J. S. Bach zu finden sind. Die Voraussetzung seines Werkes ist die Arbeit von Andreas Werckmeister, des Orgonisten und Theoretikers, der in der Musicalischen Temperatur[14] 5 Arten von Temperierungsweisen beschreibt, die auf den pythagoreisen System beruhen. Für die Mathematisierung ist die Gleichwertigkeit des Unterschiedes zwischen den Stimmen, die er geschaffen hat, grundsetzlich. Sein Kontakt zu Bach und also zu seinem Wohltemperierten Clavier entstand durch J. G. Walther (Komponist, Lexikograph und Musiktheoretiker), der Werckmeisters und auch Bachs Schülers gewesen ist[15][16].

Die Verwendung mathematischer Methoden ist bei Bach die fogende: In der Komposition seines letzten Werkes, der Kunst der Fuge hat er Permutationsmatrices benuzt. Dies konte ihm wegen der besseren Transparenz der Fugenmelodien und der Findung der passenden Reihenfolge der musikalischen Themen in den vier Stimmen zur Hilfe kommen.[17]

Für mich ist aus poetologischem Gesichtspunkt Harsdörffers 'Fünffacher Denckring der deutschen Sprache' relevant. Der 'Denckring' ist sowohl in den Mathematischen und philosophischen Erquickstunden, als auch im Poetischen Trichter enthalten. (Nebenbei soll es bemerkt werden, daß ich ihn trotz seiner Wichtigkeit im reprographischen Nachdruck des Trichters des Georg Olms' Verlages nicht gefunden habe.)

Er besteht aus 5 aufeinander gelegten Ringen aus Papier, die in der Mitte von dem Leser mit einem Splintbolzen zusammengeklappt werden sollen. Im innersten und kleinsten Ring stehen 48 "Vorsylben", dann, nach außen gehend 60 "Anfangsbuchstab[en]", 12 "Mittelbuchstaben", 120 "Endbuchstaben" und 24 "Nachsylben". Harsdörffer selbst beschreibt auch, wozu sein "Denckring" dient:

Damit nun alle Reimwörter auf alle und jede Endungen gefunden werden möchten / ist von uns hierbey gesetzte Scheiben / bestehend in 5 Ringen / erfunden worden. Deren zwar nur die mittleren zu den Reimen Anfang= Mittel= und Endbuchstaben dienen; Der erste mit den Vorsylben und der letzte oder äußerste mit den Nachsylben.
(Poet. Trichter 3. VII. 76)

Diese Ringe kann man einzeln drehen und festhalten, sowie einzelne Ringe überhaupt nicht beachten. Wenn man die Buchstaben auf diese Weise gut variirt, bekommt man zum Beispiel die Reimwörter "Gab, Schab, Schwab, Stab, Grab, Hab, Knab, Rab".

Ähnlich geht mit der Sprache nach 20 Jahren Quirinus Kuhlmann mit seinem "Sprachrad" im Lehrreichen Geschichts=Herold um.

Man merkt schon nach einer kürzeren Untersuchung des 'Denckringes', daß es erst nach einer sprachwissenschaftlichen Forschung, dh. Analyse der deutschen Sprache, nach einer längeren morphologischen und phonologischen Untersuchung möclich geworden ist, ihn herstellen zu können. (Natürlicherweise wußte Harsdörffer damals noch nicht, daß er Morphologie und Phonologie getrieben hat, da sie als Wissenschaftsbereiche erst Jahrhunderte später erfunden worden sind.) Harsdörffer hat also ein künstliches System erfunden, mit dessen Hilfe die Wortschatz des Deutschen gebildet werden kann.

Mit der Hilfe dieses 'Denckrings' kann man angeblich alle Reimwörter, alle Wörter der deutschen Sprache konstruieren. Er ist also ein Reimlexikon und ein Wörterbuch auf einem einzigen Blättchen, das nur ein deutsch sprechender Mensch, mit der Kompetenz im Chomskyschen Sinne in Gang setzen kann.

Dieses Mittel kann auf mathematischer Grundlage mit dem Begriff 'Variation' im heutigen Sinne exakt umschrieben werden. Auf dieses Verfahren machte einen damals Lullus' Werk Ars inveniendi veritatem aufmerksam, das aufgrund ihrer Methodik oft als Ars Combinatoria bezeichnet wurde. (Kombination, Variation und Permutation waren damals noch nicht exakt unterschieden.)

Diese von manchen als "Denkmaschine" und "Sprachmaschine"[18] bezeichneten Systeme kann man wohl mit recht als 'Variationsmaschine' nennen, und die Vorteile zeigen sich besonders, wenn man dies mit der - sonst auch nicht üblichen - Aufzählung der Anfangsbuchstaben bei M. Samuel Schelwig[19] vergleicht. Erstens ist das System reicher, zweitens kann man die silbenbildenden Vokale nicht vergessen, da sie auf dem Blatt stehen, drittens werden die Wörter viel leichter gefunden.

Die Anwendbarkeit Mathematischer Methoden in der Dichtung möchte ich auch mit dem folgenden Beispiel veranschaulichen. Nicht nur der 'Denckring' ist ein kombinatorisches Mittel zur Erfindung verschiedener Elemente der Gedichte.

Harsdörffer unterscheidet im Trichter weitere Arten der Invention:

Die Erfindung wird entweder hergeführet von dem Wort / oder von dem Dinge / darvon man handelt / oder von den Umstäden desselben / oder von gehörigen Gleichnissen.
(Poet. Trichter, I. Stund [[section]]15)

Unter diesen ist die erste die Erfindung aus den Worten. In der Erfindung aus den Worten spielt die Permutation der Grundelemente der Wörter - bei Harsdörffer die der Buchstaben - die größte Rolle. Er nennt das "Letterwechsel" oder "Letterkehr". Aus der Menge der Buchstaben eines Wortes oder eines Satzes permutiert er andere Worte oder Sätze so, daß man 1. entweder innerhalb dieser Menge bleibt, 2. oder die letzten Buchstaben die Anfangsbuchstaben eines anderen Wortes oder Satzes, also die Teilmenge der alten und neuen Mengen bilden, 3. oder aus mehreren Mengen mehrere weitere entstehen.

Mit der Hilfe der ersten Art des Buchstabenwechsels kann er unter anderen das folgende lehrreiche Verslein dichtenm:

Die Lieb in unserem Leib heißt übel mancherlei /
bald ist sie wie ein Beil / bald ganz erstarrtes Blei.

Mit der Hilfe der zweiten Art des Buchstabenwechsels ergeben sich zB. folgende Permutationen aus dem Namen einer Person der Frauenzimmer Gesprächspiele, aus 'Degenwehrt':

  1. Degen wehrt
  2. gewehrt den
  3. ehrt den Weg
  4. den gewehrt

Ein Haufen von dieser Art gibt es in den Erquickstunden unter der Frage XXV im ersten Teil des dritten Buches (379): "Wie ein Reimzeil mit wenigen Buchstaben zu schliessen?" Die Antwort ist eine moralische:

"Ein jeder meid den Neid und Eid."

Zur dritten Art gehört das berühmteste Beispiel, der Name der 'Fruchtbringenden Gesellschaft'. Daraus entsteht: 'Deutscher Gegend lieblicher Saft'.

Es ist also nicht nur der 'Denckring', mit dessen Hilfe man Gedanken erfinden kann, sondern auch der "Letterwechsel".

Vor den Schlußbemerkungen erwähne ich auch noch eine andere Methode, dieden Dichter bei der Gestaltung literarischer Texte von äußeren Gegebenheiten beeinflußt darstellt. Unter den vielen Wissenschaften - alle nennt Harsdörffer der Tradition gemäß 'Künste' - behandelt er in den Erquickstunden auch die Baukunst.

Die XII. Aufgabe darin ist "Einen Chor in eine Kirche zu bauen / unter welche drey Singer soviel als 30 und noch mehr thun."

Er beschreibt in der vorangehenden Aufgabe, wie ein künstlicher Widerhall mit der Hilfe der Architektur zu bilden ist. Man soll einen geschlossenen Raum bauen, in dem die Wände systematisch auf einem vieleckigen Grundriß so aufgebaut sind, daß die Stimme aus einer bestimmten Stelle auf eine andere Wand von den einzelnen Wänden geworfen werden muß. (Man darf als Dichter also nicht einmal auf die Kenntnisse der Akustik verzichten!)

Die drei Sänger stehen also auf der gleichen Stelle und singen das Lied.

Es sol auch die Music darnach gerichtet seyn / daß man allezeyt nach dreyen Sylben pausirt / damit / solche vielmals in dem Widerhall vernemlich werden / also / oder gleicher Weise. [...] Der Poet - welcher solche Lieder machet - soll sich einsilbiger W0rter / deren wir Teutsche viel tausend haben / befleißigen / und gehet in traurigen Sachen / mit Seuffzen und Klagen wol an.
(547)

Und zu diesem Punkt wird die Wissenschaft, besser gesagt die Natur die Poetik so sehr beeinflussen, daß Harsdörffer Tscherning und anderen unbedingt widersprechen soll. Sie behaupten nämlich, daß man beim Dichten die einsilbigen Wörter unbedingt vermeiden muß. Der Dichter soll in diesem Fall das Gedicht so formulieren, daß die Sänger solange warten müssen, bis der Widerhall mit dem Singen der Worte fertig ist, damit man auch die Wörter verstehen kann. Deshalb darf er nur einsilbige Wörter benutzen.

III. Schlußbemerkungen: Zusammenfassung und Ausblick

In seiner Poetik geht Harsdörffer wie es in den wenigen Beispielen gezeigt wurde, in der Invention sehr oft aus den sprachlichen Möglichkeiten aus. Gedichte zu schreiben gehört bei ihm also zu den mentalen Tätigkeiten des Menschen, der indessen neben anderen auch mathematische Methoden benutzt.

Aus diesem Sicht versteht man vielleicht besser, warum das erste große Werk von Georg Philipp Harsdörffer den Titel trägt: Gesprächspiele. Wenn nämlich die Buchstaben permutiert werden, bekommt man das Wort 'Sprachspiegel'. Die speziellen Gespräche bei ihm sind also ein Mittel dazu, dem Menschen einen Spiegel durch die Sprache zu halten, oder zu zeigen, daß der schaffende Mensch selbst der Spiegel der Sprache ist, oder wenn er vielleicht ein bißchen eingebildeter formulierte und der Titel auf sein Buch selbst hinweist: sein Werk ist der Spiegel der Sprache.

Nach meinen Untersuchungen stellte sich die Frage von selbst, ob man auch in der Erforschung der historischen Literaturtheorie Kanons gibt, oder, anders formuliert ob in den unterschiedlichen Jahrzehnten andere Seiten der gleichen Autoren untersucht werden. Ich mußte mit einem Ja antworten. Das bedeutet ungefähr soviel, daß man immer andere Fragen der Geschichte gegenüber hat, wieder anders formuliert, daß man die Geschichte für sich immer anders konstruiert. Die Frage der Innovation lautet hier folgendermaßen: Was ist neu und was kann aus alten Bruchstücken zusammengestellt werden, in der Art, wie wenn man aus alten Mozaiksteinen verschiedener Bilder ein ganz neues Bild mit eigener Inventionen bildet?

Meine Interesse den mathematischen Methoden gegenüber ist in einem Zeitalter entstanden, wo es zahlreiche Computergedichte und Computermusik gibt, bei deren Herstellung eine so genaue Planung des Kunstwerkes nötig ist, wie ich es bei Bach gezeigt habe.

Und wenn man die Frage so formuliert, dann antworten uns vielleicht nicht nur Bach und Harsdörffer, sogar nicht nur Künstler, sondern auch solche Autoren, die sich mit der Herstellung von Geheimschriften beschäftigten wie Johannes Trithemius, der mit seiner Ave Maria Chiffre[20] am Anfang des 16. Jh.-s eine Methode ausarbeitet, mit deren Hilfe man gleichzeitig zwei Gedichte schreiben könnte, sowie die 24 verschiedenen Vaterunser von Johannes Balthasar Friderici[21] aus dem Jahre 1684, deren Teile die miteinander einzeln kombinierbar sind.

Literatur


* * *



[1] Sie sind nach dem Muster der italienischen 'Academia della Crusca' entstanden, deren Mitglied seit dem Jahre 1600 auch Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen war. Er hat die erste deutsche Sprachgesellschaft, die 'Fruchtbringende Gesellschaft' im Jahre 1617 gegründet. Danach sind andere entstanden: z.B. die 'Aufrichtige Gesellschaft von den Tannen' (1637) in Straßburg, der 'Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz' (1644) in Nürnberg (von Harsdörffer und Klaj ins Leben gerufen), die 'Teutschgesinnte Genossenschaft' (1643) in Hamburg (von Zesen gegründet), der 'Elbschwanenorden' (1660), auchinHamburg (von Johann Rist gegründet). Mitglieder dieser Sprachgesellschaften waren Adligen und Bürger, unter den letzteren auch viele von mir behandelten Autoren zu finden sind. Diese Gesellschaften hatten eine normgebende Wirkung in der Arbeit an der Sprache, förderten u.a. die Entstehung von Rechtschreibungen, Poetiken und Grammatiken. Das Zusammentreffen und der häufige Briefwechsel der Mitglieder sicherten einen steten Kontakt auch während des 30jährigen Krieges.
[2] Über die Rolle, sowie Art und Weise der Übersetzunin der Barockzeit siehe GARDT (403-422), sowie SZYROCKI (48-51).
[3] Den Begriff 'ontologisierend-patriotisches Konzept' entlehne ich von Andreas Gardt.
[4] Gueintz, Chr.: Deutscher Sprachlehre Entwurf, "An den Leser", )(iiiiv
[5] Den Grund dafür, daß bei den Autoren dieser und der ihr vorangehenden Epoche viele Gedanken bis zu dem Wort ähnlich sind und bei einem bestimmten Autor diese häufig vorkommen können, erklärt Wilhelm Schmidt-Biggemann so, daß es der Epoche - besonders der Herstellung einer These oder eines Gedanken - den topischen Charakter zuschreibt. Das hat zwei Bedeutungen: einerseits gab es loci communes (griechisch topoi), sogar Sammlungen von diesen die von vielen benutzt wurden (z. B.: Luis de Granada: Loci communes.; Manlius, Johannes: Locorum communium collectanae.; D. G. Morhof: De locorum communium scriptoribus, in: Polyhistor,). Andereseits: "Eine Sache, deren Wesen und Eigenschaften bekannt sind, wird durch alle Loci hindurchgeführt" (SCHMIDT-BIGGEMANN 11) Diese zweite Art der Loci ist schon einem Begriffsystem ähnlich. Mehr davon sihe unten.
[6] Siehe dazu: Wolfgang KAYSER: Die Klangmalerei bei Harsdörffer, Mayer&Müller GmbH, Leipzig 1932
[7] Zitiert nach Borcherdt 1919, Seite 85, der die genaue Stelle in der Poetik von Buchner nicht angibt.
[8] Siehe dazu: Franz M. EYBL, W. HARMS, A-H. KRUMMACHER und W. WELZIG: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. 1995
[9] Siehe unten das Lullu-Zitat.
[10] Über Alsted: SCHMIDT-BIGGEMANN 1983 und ungarisch: Márton SZENTPÉTERI: Kombinatorikus technopaegiumok, in: Iskolakultúra, 1996/5
[11] Über Kircher siehe: Thomas LEINKAUF: Mundus Combinatus.
[12] Das deutschsprachige Zitat nach Umberto ECO: Kunst und Schönheit im Mittelalter. dtv München, 1995, S. 142
[13] "Der Traktat stammt wohl von Pieto Mainardi und wurde zuerst in Venedig 1518 veröffentlicht" SCHMIDT-BIGGEMANN
[14] Fr. /M, Leipzig, 1686/87. Bemerkenswert ist der Titel eines anderes Buchen von ihm: Musicae mathematicae hodegus couriosus, Fr./ M, Leipzig, 1686/87
[15] "A kapcsolat Bach-hoz és a Wohltemperierte Clavierjéhez J. G. Waltheren keresztül jött létre" Bruchhaus- Riemann Zenei Lexikon III. kötet 658. l.
[16] Zu der Themetik siehe noch László Krasznahorkai Az ellenállás melankóliája, besonders den Kapitel A WERCKMEISTER-HARMÓNIÁK
[17] "A vizsgált szerkezet a zenetörténetbe ágyazva jellegzetesen Janus-arcú. A gyökerében egészen a 12. századig (rota, rondellus) nyomon követhetõ permutációs szerkesztés alkalmazása egy egyébként is a stile antico jegyeit magán viselõ hangszeres mûben kifejezetten archaizálónak mondható. Ugyanakkor a témák belépéseinek elõzetes térbeli és idõbeli meghatározása, a permutációs mátrix (mint végeredmény) alkotóelemeinek, azok sorrendjének és hangmagasságának következetes rögzítése századunk kompozíciós módszereit vetíti elõre." (GÖNCZ, 1953)
[18] W. KÜNZEL und P. BEXTE: Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers, 102 ff.
[19] M. Samuel SCHLESWIG: Entwurff der lehrmäszigen Anweisung zur Teutschen Ticht=Kunst. 47 f.
[20] Joh. Trithemius: Polygraphia
[21] Joh. Balth. Friderici: Cryptographia



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