PALIMPSZESZT
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Zsuzsa SZÉLL
Über Identität -- andersrum

Dem Wörterbuch nach geht es also - dem spätlateinischen identitas entsprechend - um Übereinstimmung, Gleichheit, Wesenseinheit. Der springende Punkt liegt jedoch bei der Frage: will man mit sich selbst identisch sein, seine Persönlichkeit einsetzen und erfüllen oder identifiziert man sich mit etwas, was außerhalb der eigenen Persönlichkeit liegt, sei das nun die Nation, eine Religion, ein philosophisches Glaubensbekenntnis oder eine Person?! Warum diese ewige Suche nach einem äußerlichen Identifikationsobjekt, besser gesagt Idol, obwohl wir uns schon so oft dabei die Finger (und wahrlich nicht nur die Finger) verbrannt haben? Wahrscheinlich, weil bei dieser Identifikation uns ein metaphysisches Obligo für als ab ovo gültig erscheint, und wir gar nicht bemerken, daß dadurch unsere eigentliche Identität, unsere autonome Individualität flöten geht.

Gegen Ende des Kakanien-Kapitels im Mann ohne Eigenschaften führt Musil aus, daß ein Mensch mindestens neun Charaktere hat (»[...] einen Berufs, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts- einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter;«), und er fügt hinzu: »[...] er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf [...]«. »Deshalb« - so Musil - »hat jeder Erdbewohner noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun Charaktere tun und was mit ihnen geschieht, also mit anderen Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.«

Das ist kein Gedankenspiel, sondern ernst zu nehmende Warnung, Warnung vor der Gefahr, in die Sackgasse des Nationalisten, des homo staliniensis, des Fundamentalisten - egal welcher couleur -, des Roboters u.ä.m. zu gelangen.

Vor kurzem erschien von dem rumänischen Philosophen R.-H. Patapievici eine Studie (Európai Utas Nr. 25), die sich zwar mit dem rumänischen Nationalismus und Protokronismus beschäftigt, deren Schlüsse aber auf alle sogenannten Gedankengänge zutreffen, deren höchste Instand die gewisse Besonderheit einer jeweiligen Nation ist. Denn überall, wo man auf nationale (oder andere äußerliche) Identität pocht, ist das Ergebnis - wie Patapievici zeigt - ein für unumstößlich erklärtes Normensystem gemeinschaftlicher Unverantwortlichkeit, die Unterbindung des selbständig denkenden und handelnden Individuums. Nicht von ungefähr hat auch Musil den oben erwähnten Abschnitt mit folgendem Satz eröffnet: »Es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären.«

Die Erfahrungen, Bedürfnisse und wissenschaftlichen Erkenntnisse unseres Jahrhunderts belegen einstimmig: universale Systeme gibt es nicht, demnach können »universale« Ideen nur falsch sein. Dabei kann ich mich unter anderen auf Karl Popper berufen (Über Wolken und Uhren, in: Objektive Erkenntnis): »Die Welt ist ein offenes System, worin die Entwicklung des Lebens en Vorgang von Versuch und Irrtumsbeseitigung« ist. Und konkreter zeigt er, daß ein juristisches oder soziales System zwar von uns erzeugt ist, aber uns auch beeinflußt, also in keinem vernünftigen Sinnen »identisch« oder »parallel« mit uns ist, sondern mit uns in Wechselwirkung tritt.

Aber anstatt mich in philosophischen Gefilden zu verlaufen, möchte ich lieber dem Beispiel Patapievici's folgen und vor der eigenen Tür kehren. Doch was ist die eigene Tür? Robert Schindel hat die Antwort darauf als Titel seines Romans (Suhrkamp, 1994) auf den Begriff »gebürtig« gebracht. Aber im Laufe des Romans zeigt sich, daß das gar kein so schlüssiger Begriff ist. Für mich persönlich würde er z.B. als Geburtsstadt Wien bedeuten, gleichzeitig eine seit Großelterns Zeiten assimilierte jüdische Familie, ein vom Gutbürgerlichen langsam aber sicher abrutschendes soziales Umfeld, in dem Strafe groß und Lachen klein geschrieben wurde und dessen Horizont durch Belletristik und Gemäldereproduktionen auf Ansichtskarten erweitert wurde. Sollte ich mit diesem »gebürtig« auskommen und all das, was ich im Laufe der historischen, beruflichen und privaten Eingriffe auf mein Dasein aufgelesen oder fallengelassen habe, geringer ankreiden?

Um aus dem privaten Bereich auszubrechen, wende ich mich dem schon erwähnten Roman zu. (Es sei mir verziehen, daß ich ihn hier nicht ästhetisch bewerte, sondern bloß an seine inhaltlichen Elemente anknüpfe.) Schindel stellt eine beachtliche Reihe von Menschen dar, deren »Gebürtigkeit« bestimmend zu sein scheint. Die meisten von ihnen sind Juden, genauer jüdische Intellektuelle, deren Abstammung durch den erlittenen oder erinnerten Holocaust noch stärker betont ist. Bemerkenswert ist, daß sich die jüdische Zugehörigkeit jeweils anders manifestiert. Über eine Dame erfahren wir, »ihr Jüdisches hat ein von ihrem sonstigen Ausdrucksvermögen abgekoppeltes Irrlaufdasein angenommen«, sie leidet also an einer unaufgearbeiteten Diskrepanz innerhalb ihrer Persönlichkeit. Der Literat Emanuel Katz ist ein Mann, der erst kürzlich, nach dem Tode seines Vaters, sein Judentum entdeckte, und in seinen schriftlichen Äußerungen vertritt er die Meinung, das Judentum könnte sich nur befreien, wenn es ihm gelänge aus der KZ-Bestimmtheit auszubrechen; außerdem macht er einem Freund - zu dessen Empörung - Vorwürfe, dieser würde sein Judentum verleugnen; einem Deutschen gegenüber äußert er: »Ich bin ja bloß privat Jude«. Was seine Ansichten und diese Bemerkung zu bedeuten haben, ist vage - nicht aus Verschulden des Autors, sondern als nuancierte Wiedergabe einer Figur. Beispiel der Verleugnung des Judentums ist im Roman Peter Adel, Regisseur in Hamburg, dem nach seiner Rückkehr aus der Emigration diese Haltung besser und klüger, oder einfach die praktischere schien. Ein ganz besonderer Fall verleugneter und fast gefundener Identität ist der aus Wien Stammende, in Amerika lebende weltberühmte Autor namens Gebirtig, der - seiner KZ-Erinnerungen wegen - jahrzehntelang verbietet, seine Werke im deutschsprachigen Raum zu verlegen oder aufzuführen, und der deutschen Boden, vor allem aber Wien nie wieder betreten will. Bei einem ihm mit ethisch-politischen Gründen eher mehr als weniger aufgezwungenen Wienbesuch findet er jedoch nicht nur zu seiner Kindheit zurück, sondern wird auch fähig, Wien im wahrsten Sinne des Wortes zu genießen; schließlich aber kehrt er nach Amerika und zu seinen dortigen Gepflogenheiten zurück. Auf alle diese und viele andere Juden des Romans trifft der in ihm zu lesende Satz zu: »Da sitzen sie alle herum, sich selbst fremd, jeder an seiner Statt.« Wir werden den Satz noch einmal zitieren müssen, einstweilen aber sei festgehalten: Jeder erlebt und lebt sein Judentum anders.

Obiges hat in einem anderen Bereich mein Kollege Péter Varga nachgewiesen (»Ich bin ein Ungar mosaischer Konfession« - Ungarische Juden am Scheideweg von Identität und Sprachen. In: Berliner Beiträge zur Hungarologie Nr. 9). Am Beispiel von drei Schriftstellern - nämlich Moritz Gottlieb Saphir, Josef Kiss und Josef Holder (alle drei in Ungarn gebürtige Juden) zeigt er, daß die Möglichkeiten jüdischen Selbstverständnisses unterschiedlich sind (im gegebenen Fall die Hinwendung zum Deutschen, zum Ungarischen bzw. zum Jiddischen), daß demnach keineswegs bloß von einem Typus jüdischer Identifikation die Rede sein kann. Feinfühlig fügt Varga hinzu, daß »die Sprache meist den äußeren Lebensweg prädestiniert, abgesehen davon inwieweit diese Tatsache als eine von außen aufgetragene Last oder als eine frei gewählte Alternative empfunden wurde.«

Hier möchte ich wieder Persönliches einschalten: Meinerseits empfinde ich den Umstand, daß ich mich weder als Jüdin noch als Ungarin oder Österreicherin definieren kann, als einen erweiterten Daseinsraum, als ein Plus an Freiheit. Ich kenne aber viele Leute, die ihre ähnliche Situation - mit nicht geringerem Recht - als einen unüberwindlichen Makel, als Alptraum erleben.

Es geht also nicht um gewählte oder geforderte »Identität«, sondern vor allem um unsere Stellungnahme dazu. Im Falle der in der Welt zerstreut lebenden Juden wird es besonders klar, daß ihre nationale, religiöse und soziale Bindung objektiv und subjektiv problematisch und eben deshalb vielfältig ist. Nicht nur dem Indentifikationsziel und -grad nach, sondern auch mit jeweils anderen Vorzeichen. Ein Jude muß sich - ob er will oder nicht - mit diesem Problem auseinandersetzen, denn mag seine Verankerung im Judentum noch so stark oder schwach sein, von außen wird jeder Jude ständig so als Jude identifiziert, daß sich darin eine Distanzierung, wenn nicht sogar meist eine Diffamierung verbirgt (Vom »dreckigen Juden« bis zum - im besten Falle - »ein Jude, aber ein anständiger Mensch«). Die von außen kommende Beurteilung wirkt sich natürlich auch auf die Eigenbeurteilung aus, doch auch das auf immer andere, jeweils individuelle Art; die facettenreiche Skala entfächert sich von der Verleugnung des Judentums bis zum trotzig überbetonten Bekenntnis dazu.

Es geht hier nicht darum, die Judenfrage zu behandeln oder gar Lösungsversuche dazu anzubieten. Sie dient hier nur als Beispiel. Ich bin nämlich überzeugt davon, daß die im Falle der Juden so offensichtliche Vielfalt nationaler und religiöser Selbstbestimmung auch bei anderen Nationen und Völkern aufzufinden ist, man muß nur etwas genauer hinschauen. Dabei hat uns wieder Schindels Roman so manches zu sagen.

Einige Beispiele: Ein junger Mann namens Stiglitz, der die Stirn hat, einer Jüdin gegenüber Mauthausen als schöne Gegend zu loben, findet es selbst lächerlich »sich nach zehn Jahren Wien noch immer als Mühlviertler Aufsteiger zu fühlen.« Als er aber eine andere Dame kennen lernt, zieht er sich zurück, denn »nach ein paar Wörtern schreckte er, der Oberösterreicher von ihrem Tirolerischen zurück«. Sachs, dessen Vater für seine in Polen verübten Kriegsverbrechen hingerichtet wurde und der als kleiner Junge »der Prinz von Polen« genannt wurde, beschloß als junger Mann »keinen Vater zu haben, nie einen Vater gehabt zu haben.« Er zieht nach Hamburg, ist dort angehender Feuilletonist und glücklich verheiratet, doch nach Jahrzehnten holt ihn die innere Notwendigkeit der Klärung ein. Er erkennt: »Jedenfalls [...] stehen unsere Nächte heute unterm Schuldgestirn. Es kann keine Normalität geben.« Dem versucht er durch einen schonungslosen Rückblick auf seine Kinderjahre zu entkommen. Ich möchte die Beispiele aus dem Roman nicht häufen. Mit Sicherheit aber trifft auch auf seine nichtjüdischen Figuren der schon einmal zitierte Satz zu: »Da sitzen sie alle, jeder an seiner Statt.«

Um bei der Selbstbestimmung der Deutschen als Deutsche zu bleibe: lange Zeit schien sie problemlose Selbstverständlichkeit, bloß unterwandert von dem oft hämischen Verhältnis der deutschen Stämme zueinander. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg ist es aus mehreren Gründen, vor allem durch die Teilung des Landes, gar nicht mehr so einfach zu bestimmen, was ein Deutscher ist. Diese Schwierigkeit wird durch die Völkerwanderung der letzten Jahrzehnte nur noch komplizierter. Beispiele dieser Art ließen sich bei anderen Nationen beliebig nachweisen und variieren.

Fazit im Klartext: keine Nation bildet eine homogene Familie. Ja mehr als das: wehe, wenn sie so tut, als wäre sie das. Vollkommene Einheit und Gleichheit tritt nämlich nur in zwei Fällen auf: im zum Massenwahn manipulierten Bewußtseinsverlust oder im Vorraum der Gaskammern. Und jedes Volk wird von außen auf gewisse, meist negativ gewertete Eigenschaften festgelegt (der dickschädelige Deutsche, der verlotterte Franzose oder Italiener, der humorlose oder verschlossene Engländer).

Hier einen Schlußpunkt zu setzen, wäre verfrüht. Der Einwand, daß es in jedem Volk gewisse Traditionen gibt, liegt auf der Hand. Wobei sich natürlich die Frage stellt, inwiefern traditionelle Gepflogenheiten (von der Küche bis zur Politik) einfach angenommen oder als allein seligmachende vertreten, oder aber mehr oder minder kritisch durchdacht werden. Dabei spielt die Heterogenität unseres Bewußtseins eine große Rolle. Ich gleite wieder ins Persönliche ab: dieser Tage - zu Jahresbeginn 1997 - habe ich mich dabei ertappt, zu behaupten, ich sei stolz auf die jungen Leute in Belgrad, die seit vielen Wochen so diszipliniert gegen die Wahlfälschungen demonstrieren. Dieser Stolz - also ein persönliches Gefühl - ist auf einige in Belgrad verbrachte Jugendjahre zurückzuführen. Doch denke ich nach, so berechtigen mich diese paar Jahre nach so vielen Jahrzehnten kaum zu einer derartigen Identifikation. Sartre äußert sich irgendwo darüber, daß es für einen Franzosen viel peinlicher sei, in Istanbul französischen Straßenmädchen zu begegnen als solchen anderer Nationalität. Der puren Logik nach ist eine derartige Unterscheidung unberechtigt. Gefühle, traditionelle Verankerungen sind ausschlaggebend, wenn wir die Siege »unserer« Sportler, die Errungenschaften »unserer« Wissenschaftler und Künstler mit größerer Anteilnahme begrüßen. Eine gewisse Mechanik des als ganz persönlich empfundenen Unpersönlichen tritt hier in Kraft. Das scheint unvermeidbar. Unzulässig ist aber der eherne Vorsatz, keinerlei Irrtumsberichtigung zuzulassen. Selbstkritische Haltung unseren Gedanken und Gefühlen, der gewählten oder aufoktroyierten Tradition gegenüber verbürgt die Möglichkeit, all unsere Charaktere nicht von einem einzigen verschütten zu lassen. Keine Identifikation mit einem Äußerlichen birgt metaphysische Erlösung vom Ich, vor der individuellen Verantwortung in sich, höchstens deren trügerischen Schein und damit Ichverlust.

Was ich hier über die nationale Identifikation darzulegen versuchte, könnte man natürlich am Beispiel des sogenannten Klassenbewußtseins oder an dem der Überzeugung, eine gewisse Sparte menschlichen Denkens und Tuns sei über alle anderen zu stellen u.ä.m. durchspielen. Führt aber Identifikation mit einem Äußerlichen zu Icheinengung und Ichverlust, birgt die Meidung jedweder derartigen Identifikation nicht Ichauflösung in sich, wie das schon Rilkes Malte erfahren mußte?

Bei Überlegungen dazu ist meines Erachtens die bewußte, also auch kritische Auseinandersetzung mit jedwedem Identifikationsobjekt der Ausgangspunkt. Weiterhin geht es nicht nur um selbstgewählte, sondern auch um selbstgestaltete Identifikationssphären - wohl gemerkt: Sphären im Plural. Man kann z.B. Albert Schweitzer nicht als Musiker, Musikwissenschaftler, Mediziner, Philosophen, Philanthropen oder religiösen Menschen einengen. Er ist das alles, doch auch sehr viel mehr. Er ist Albert Schweitzer. Nicht nur durch sein Format. Ich denke, jeder von uns kennt Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildung, die er als integre Persönlichkeiten empfindet, weil sie offen sind, offen sowohl anderen als sich selbst gegenüber, d.h. willig und fähig sich zu verändern, willig und fähig Andersartige - in welchem Sinn auch immer andersartig - zu akzeptieren. Denn sie sind nicht auf einen einzigen »Wert« eingeschworen, beurteilen nicht alles und jedes im Sinne eines postulierten Superwertes, sondern achten die Vielfalt und die Relativität der Werte. Und darauf kommt es an.




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