PALIMPSZESZT
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Magdolna OROSZ
Getrennte und vereinigte -- Identitätsprobleme in der österreichischen und ungarischen Literatur der Jahrhundertwende

  1. Trennen und Vereinigen
  2. Möglichkeit und Unmöglichkeit von Identität
  3. Identität als Zeitproblem
  4. Literatur
  5. Fußnoten

1. Trennen und Vereinigen

In den nachfolgenden Überlegungen geht es um Texte, in denen >Verbindung< und >Absonderung<, >Trennen< und >Vereinigen< im mehrfachen Sinne des Wortes bzw. auf mehreren Ebenen auftauchen.

(i) Einerseits thematisieren die beiden von mir zur Untersuchung heranzuziehenden Texte/Romane in ihrer semantischen Struktur eben diese zwei (miteinander eng zusammenhängenden und einander voraussetzenden) Motive von Einheit und Verschiedenheit, d.h. von Identität und Identitätsstörung.

(ii) Andererseits entstehen durch spezifische und verschiedenartige intertextuelle Bezugnahmen weitere Beziehungen zwischen Texten, die voneinander ursprünglich durch verschiedene Autoren, Zeiten oder Gattungen getrennt sind, wobei diese zweite Ebene der zwischentextuellen Verbindung durch die semantische Integration fremder Elemente natürlich auf die thematische Behandlung der erwähnten Motive sich auswirkt, so daß dadurch eine wesentliche Eigenschaft beider Romane entsteht. Die Gestaltung des Identitätsproblems bedeutet auf dieser Ebene zugleich eine intertextuelle Bearbeitung bestimmter Vorlagen, wodurch eine Symbiose und Ambivalenz von Eigenem und Fremdem, Getrenntem und Vereinigtem entsteht.

(iii) In einem weiteren Schritt (und eigentlich auf einer Meta-Metaebene) geht es mir (was schon mein freier, aber durch die Texte geleiteter Interpretationsakt ist) um das Verbinden von zwei scheinbar voneinander unabhängigen Texten, das aber durch die Analyse der inhaltlich-semantischen und der intertextuellen Beziehungen möglich wird und dadurch auch seine Rechtfertigung findet.

Im folgenden versuche ich zwei Romane, den Andreas-Roman von Hugo von Hofmannsthal und den Roman A gólyakalifa (Der Kalif Storch) von Mihály Babits miteinander in Verbindung zu bringen und sie auf bestimmte Fragestellungen hin zu vergleichen. Hofmannsthals Roman hat schon zu manchen Vergleichen Anlaß gegeben, es wurde z.B. seine Verwandtschaft mit Prousts A la recherche du temps perdu nachgewiesen,[1] die auch durch Hofmannsthals Proust-Lektüre, d.h. eine zumindest einseitige konkrete Beziehung unterstützt werden kann.[2] Es gibt aber enge (unbeabsichtigte und zufällige, aber umso interessantere und sogar symptomatische) Relationen von Andreas zu A gólyakalifa. Die Verbindung kommt durch die Entstehungszeit, die gemeinsame Problematik und die intertextuelle Vorlage zustande:

(a) Die beiden Romane sind ungefähr zur gleichen Zeit entstanden. Diese Frage ist im Falle von Hofmannsthals Roman ein bißchen spezifisch, da er nie vollständig beendet wurde und bestimmte Teile davon nur in fragmentarischer Form als nachgelassene Notizen entstanden und der Forschung auch erst seit 1982 vollständig zugänglich sind.[3] Der längere zusammenhängende Text, der zweite Entwurf, wie es Manfred Pape nennt, läßt sich aber auf einige Wochen der Jahre 1912 und 1913 datieren.[4] Der Roman von Babits ist zwar 1916 in Buchform erschienen, er ist aber schon 1913 in der Zeitschrift Nyugat veröffentlicht worden,[5] somit fällt die Entstehungszeit mit der des zusammenhängenden Hofmannstahl-Romanteils im großen und ganzen zusammen.

(b) Beide Romane sind - und der Zusammenfall der Entstehungszeiten wird erst dadurch wichtig und relevant - auch thematisch eng verbunden, denn - mit einem Wort - es geht in beiden um Probleme der Identität, um gestörte Identität einer Figur oder mehrerer Figuren und »für jeden geht es um das Eins-werden mit sich selber«,[6] d.h. programmatisch, ob durch Trennen oder Vereinigen, um das Erschaffen einer Identität der Persönlichkeit. Die beiden Romane repräsentieren in dieser Hinsicht zwei Lösungsversuche. Als zusätzliches Problem erscheint für Andreas noch die Identität des Textes selber, denn - wie bereits gesagt - sie könnte auch gestört genannt werden, wenn wir unter der Identität eines Textes seine Geschlossenheit und eindeutige Überlieferung verstehen wollten.

(c) Außer der gemeinsamen Thematik und der Entstehungszeit entsteht noch eine weitere Beziehung durch die gleiche intertextuelle Vorlage (wodurch ich eigentlich erst auf diese Werke aufmerksam wurde). Obwohl beide Romane mehrfache (und voneinander abweichende) intertextuelle Bezugnahmen erschließen lassen, bedeutet die wichtigste gemeinsame intertextuelle Vorlage für beide ein eigentlich nicht literarisches Werk, sondern eine psychopathologische Studie, nämlich das Buch von Morton Prince unter dem Titel The Dissociation of a Personality. A Biographical Study in Abnormal Psychology, das 1906 in New York erschienen ist. Der Andreas-Roman nennt dieses Buch zwar nicht in dem zusammenhängenden Text, sondern in einer Notiz,[7] aber andere Quellen (z.B. Hofmannstahls Tagebuch sowie Briefe) erwähnen es eindeutig.[8] Im Falle von Babits wird die Vorlage im Roman selbst gekennzeichnet und expressis verbis erwähnt: »Nem felelt; kutatott tovább szigorúan. És elõjöttek mindenféle könyvek, német, angol, francia lélektani munkák, vaskos kötetek, csodálatos címekkel. L'Automatisme Psychologique... The Dissociation of a Personality...«.[9] Der zufällige Zusammenfall der intertextuellen Vorlage läßt eben auch die thematische Verbindung der Werke von Hofmannsthal und Babits enger werden, indem das Buch von Prince die Pathologie (bzw. einen pathologischen Fall) der Identitätsstörung analysiert, was auch auf die Behandlungsweise solcher Fragen in den zwei Romanen sich auswirkt.

2. Möglichkeit und Unmöglichkeit von Identität

2.1.

Das zentrale Thema beider Romane läßt sich als das Problem der Identität charakterisieren. Die Frage stellt sich auch gleich, was denn unter >Identität< zu verstehen wäre. Im jetzigen Kontext, d.h. in der erzählten fiktiven Welt der behandelten Texte, definiere ich >Identität< als eine Art Konsistenz, als die Möglichkeit einer konsistenten Selbst- und Weltinterpretation als eigene intellektuelle und zugleich auch moralische Leistung, was eben ein Ordnen und Verbinden von verschiedenen Elementen des (fiktiven) Individuums und der umgebenden (fiktiven) Welt bedeutet. Diese Bestimmung beruht zugleich auf der Präsupposition, sowohl das Ich, die Persönlichkeit, als auch die Welt seien ein Komplex heterogener Elemente (diese Behauptung kann eben aufgrund der erwähnten psychologischen Studie von Morton Prince, sowie weiterer noch nicht genannter Faktoren wie der Einwirkung der Psychoanalyse, angenommen werden), die es eben in eine konsistent geordnete und überschaubare Ordnung zu bringen gilt. >Identitätsstörung< wäre demnach die Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, diese Konsistenz zu erschaffen. Die beiden Romane thematisieren dieses gemeinsame Problem auf verschiedene Art und Weise, wobei auch bestimmte Ähnlichkeiten zu entdecken sind.

2.2.

Obwohl es - wegen der Unabgeschlossenheit und dem fragmentarischen Charakter des Textes - schwierig ist, über Andreas umfassende Aussagen zu machen,[10] lassen sich doch manche wichtigen Züge erkennen. Der Roman (bzw. der zusammenhängende Teil[11]) erzählt die Geschichte eines jungen Mannes,[12] der aus Wien kommt und durch Reisebegegnungen in Kärnten und Venedig mit verschiedenen Menschen, Gefühlen, Beziehungen und dadurch mit verschiedenen Aspekten (Teilen) seiner eigenen Persönlichkeit konfrontiert wird, was für ihn »die Frage nach den Grenzen und der Einheit der Person«[13] aufwirft.

In der erzählten Welt des zusammenhängenden Textteils des Romans dominiert die Venedig-Episode, denn die Ereignisse in Kärnten tauchen eigentlich als Erinnerungen (d.h. als Produkte nicht-realer, virtueller, weil in die Venedig-Geschehnisse eingebetteter Bewußtseinszustände) auf. Venedig als Ort[14] ist äußerst wichtig, denn als solcher ist es mit symbolhafter Bedeutung beladen, die Stadt als Handlungsraum wirkt als räumlicher Katalysator der Identitätsproblematik, weil sie eben verschiedene Gegensätze (»Lebensgenuß und Askese, Okzident und Orient, Nähe und Ferne, alle Kontraste und Extreme«[15]) kaum durchschaubar als Labyrinth verbindet. Diese symbolhafte Bedeutung konzentriert sich im Motiv der »Maske« bzw. »maskiert sein«,[16] denn die Maske sichert eine scheinbare Identität, die die Ambivalenz von gleichzeitiger Identität und Nicht-Identität repräsentiert. So ist es denn kein Zufall, daß der in Venedig ankommende Andre(a)s als ersten Menschen eben einen Maskierten antrifft:

dann trat aus einem Gäßchen ein Maskierter hervor, wickelte sich fester in seinen Mantel nahm mit beiden Händen ihn zusammen [...]. Andres tat einen Schritt vor und grüßte, die Maske lüftete den Hut und zugleich die Halblarve [...]. Es war ein Mann der vertrauenswürdig aussah und nach seinen Bewegungen und Manieren gehörte er zu den besten Ständen. (KA, S. 40)

Der Gegensatz von Schein und Sein, der sich im Motiv der »Maske« verbirgt, zeigt sich auch darin, daß der Maskierte, der »zu den besten Ständen« zu gehören scheint, sich gleich darauf als ein verlumpter Spieler ausweist (vgl. KA, S. 41: »und Andres sah, daß der höfliche Herr unter dem Mantel im bloßen Hemde war, darunter nur herabhängende Kniestrümpfe, die die halben Waden bloß ließen und Schuhe ohne Schnallen«). Dieses Maskiertsein im weitesten Sinne des Wortes bestimmt dann alle Figuren der Venedig-Episode (die Mitglieder der Familie des Grafen, die zum Theater gehört, die sich verwandelnde Frauensperson in der Kirche usw.), aber auch die Umgebung, z.B. das Haus, das »eine vornehme aber recht verfallene Hinterseite hatte und dessen Fenster anstatt mit Glasscheiben mit Brettern verschlagen waren« (KA, S. 41).

Das Maskenmotiv verbindet auch Venedig mit Wien, denn »in Wien kommt es jedem darauf an etwas vorzustellen« (Notiz 82, KA S. 113), d.h. statt das Sein den Schein dominieren zu lassen. Ausgangsort und Ankunftsort entsprechen also einander in dieser Eigenschaft (Andreas wohnt ja in Venedig in der Nähe eines Theaters, wo es eben auf das »Vorstellen« ankommt).

Die Identität von Andreas war auch schon in Wien unsicher, besonders in seinen labilen und durch Mißverständnis, Mißverstehen und Verschweigen (Verdrängen) gekennzeichneten Beziehungen zu seinen Eltern:

Er dachte an seine Eltern und den Brief den er im Caféhaus an sie schreiben würde. Er nahm sich vor beiläufig so zu schreiben: Verehrungswürdige gnädige Eltern. Ich melde Ihnen daß ich in Venedig glücklich eingetroffen [bin] ich bewohne ein freundliches sehr reines und luftiges Zimmer bei einer adligen Familie [...] Zweifelhaft war ihm, ob er berichten solle, daß er so ganz nah einem Theater wohne. (KA, S. 45)

Diese ambivalente Beziehung bestimmt auch seine Selbsteinschätzung, d.h. Selbstinterpretation, also Identität:

So etwas kann nur Dir passieren, hörte er die Stimme seines Vaters sagen, so scharf und deutlich als wäre es außer ihm; er stand auf, that ein paar träge Schritte, die Stimme sagte es noch einmal, er blieb stehen: Er wollte sich dagegen auflehnen. Warum glaub ich es selbst? grübelte er. (KA, S. 68)

In Venedig sollte dann diese labile Identität, d.h. labile Selbstkenntnis und Selbstinterpretation, durch die revelative Konfrontation mit anderen ähnlichen Persönlichkeiten (besonders mit der in einander vollständig widersprechende Teile gespaltenen Doppelfigur Maria-Mariquita, die nur in den Notizen auftaucht, im analysierten Textteil vielleicht in der rätselhaften Frauenfigur angedeutet wird) stabilisiert werden, wodurch eine Einsicht in die eigene Gespaltenheit erfolgen und zugleich auch ermöglicht werden sollte, »die Persönlichkeitsfragmente wieder zu einem Ganzen zu verschmelzen«.[17]

Als Kontrastort zu Wien und besonders zu Venedig erscheint Kärnten, das in Erinnerungsbildern von Andreas (d.h. in einem nicht ganz bewußten Bewußtseinszustand) erscheint. Hier sind auch die Figuren des Finazzerhofes und unter ihnen besonders Romana durch eine Konsistenz charakterisiert. Romana bedeutet für Andreas die für ihn (noch) unerreichbare Einheit mit sich selbst und der Welt: »es war Andres als schaue er in einen Krystall, in dem lag die ganze Welt aber in innerer Unschuld und Reinheit.« (KA, S. 56) Die Identität der Familienmitglieder, ihre enge Zusammengehörigkeit ist zugleich auch durch das Motiv der Blutsverwandtschaft symbolisiert, da sie dadurch grundsätzlich als »Vereinigte« (wenn auch in einem spezifischen Sinne) gelten können:

so waren der Vater und die Mutter zusammengebrachte Kinder gewesen, die Mutter ein Jahr älter als der Vater, und darum hingen sie auch gar so sehr aneinander weil sie vom gleichen Blut waren und von Kindheit an miteinander aufgewachsen. [...] So wollte sie auch einmal mit ihrem Mann zusammenleben, anders wollte sies nicht. (KA, S. 57)

Die Möglichkeit der Identität für Andreas wird hier angedeutet, eben durch seine eventuelle Liebe zu Romana (die Liebe gilt eben als ein Gefühl, ein Bewußtseinszustand, die eine im obigen Sinne verstandene Identität, ein Einswerden mit sich selber auch ermöglicht), die durch eine Andeutung auch als Liebe von »Blutsverwandten« erscheint: »Andres war es wunderbar, wie das Mädchen so ungehemmt alles zu ihm redete, als ob er ihr Bruder wäre.« (KA, S. 58) Wegen der (noch) nicht erreichten Identität von Andreas bleibt aber eine solche Vereinigung (zugleich mit sich selbst und mit der Welt) nur eine Möglichkeit, die sich erst im Traum, d.h. im Bereich der Potentialität, im Bereich der Befreiung unbewußter Persönlichkeitsinhalte kundtut (hier eigentlich als Bilanz des Traumes):

Er wußte daß er geträumt hatte, aber die Wahrheit in dem Traum durchfuhr ihn mit Glück bis in die letzte Ader. Romana's innerstes Wesen hatte sich ihm angekündigt mit einem Leben, das über der Wirklichkeit war. In ihm oder außer ihm, er konnte sie nicht verlieren. Er hatte das Wissen noch mehr er hatte den Glauben, daß sie für ihn da war. (KA, S. 73)

Die Momente dieser Suche von Andreas nach sich selbst lassen zugleich eine zusammengesetzte Persönlichkeitsstruktur erkennen: das entspricht der Suggestion der Princeschen Vorlage über die (zwar pathologische, aber mögliche) Trennbarkeit der menschlichen Psyche in einander entgegengesetzte Teile sowie auch den grundlegenden Annahmen der zur Entstehungszeit des Andreas-Werkes bekannten Freudschen Theorie der menschlichen Persönlichkeitsstruktur. Das Identitätsproblem des Doppelwesens Maria-Mariquita der Notizen, das die bei Prince in vier Teile gespaltene Figur von Sally auf zwei, einander entgegengesetzte und sich zugleich ergänzende Persönlichkeitsteile reduziert, läßt sich eben durch die zwei doppelgängerartigen Figuren oder der in zwei Teile gespaltenen Figur[18] repräsentieren. Der eine Persönlichkeitsteil, der als »die Dame« bezeichnet wird, repräsentiert die (hier eigentlich übertrieben) sublimierten Wünsche, Neigungen, Bestrebungen und die von aller Sinnlichkeit befreite Liebe, der andere Persönlichkeitsteil aber, der »die Cocotte« genannt wird, vertritt die unbewußten, triebhaften Inhalte und die Sinnlichkeit, die eben von aller pathologischen Übertreibung zu befreien und dadurch die einheitliche Persönlichkeit zu erschaffen wäre, denn »sie sind Spaltungen ein und derselben Person: die sich gegenseitig trucs spielen« (KA, S. 10).

Nicht nur Maria-Mariquita symbolisieren die Identitätsspaltung, sondern auch Andreas selbst kann (wenn auch nicht so direkt) als ein »Doppelwesen« in einem spezifischen Sinne betrachtet werden. Seine Persönlichkeit strukturiert sich ebenso in bewußte und unbewußte Inhalte, die durch eine bestimmte Figurenkonstellation erhellbar sind. Einerseits lassen sich solche Erscheinungen selbst innerhalb der Familie von Andreas beobachten: sein Onkel Leopold, dem er übrigens sehr ähnlich ist, mit dem er sich für Augenblicke identifiziert (»bald meinte er, er wäre der Onkel Leopold«, KA, S. 71), der dadurch stellvertretend für ihn ist, gestaltet auch ein Doppelleben zwischen Schein und Sein, Asexualität und Sexualität mit einer vornehmen, aber kinderlosen und einer niedrigeren, aber kinderreichen Frau:

[...] trat die kinderlose rechte Frau herein, die geborene della Spina, [...], bei der anderen halboffenen Tür rückte sich die andere illegitime herein, die bäurische mit dem runden Gesicht und dem hübschen Doppelkinn hinter der ihre 6 Kinder einander bei der Hand hielten [...]. (KA, S. 69-70)

Andererseits erscheint - zumindest partiell - die Zusammenstellung Andreas- Gotthelf als ein ähnliches Doppelwesen wie Maria - Mariquita.[19] Andreas kann seinem Bedienten Gotthelf nicht widerstehen, weil er in ihm verdrängte, nicht offen artikulierte Eigenschaften (Eitelkeit, Vornehmtuerei) offenlegt. Der Bediente repräsentiert - durch seine (über)betonte Sexualität - zugleich auch verborgene unbewußte Wünsche des beinahe asexuellen oder der Sexualität noch nicht gewachsenen Andreas (»wenn der gewußt hätte daß er noch nie ein Weib hat ohne ihre Kleider gesehen geschweige angerührt« KA, S. 49-50), so scheint es folgerichtig, daß sie miteinander in einem symbolhaften Traum identifiziert werden können: »Er war dicht bei ihr und fühlte sie hielt ihn für den bösen Gotthelf - und doch wieder nicht für den Gotthelf. Ganz sicher war auch ihm nicht wer er war.« (KA, S. 73) Die Unsicherheit von Andreas sich selbst gegenüber sowie die ambivalente Beziehung zu Gotthelf hindern ihn eben daran, in der Liebe zu Romana auch seine eigene Identität zu finden, wobei eine spätere Verwirklichung im fragmentarisch ausgeführten Roman doch angedeutet wird.

Die grundlegende Identitätsproblematik ließe sich auf eine besondere Art lösen, und zwar durch »das Allomatische«, das in einer Notiz (N 68, KA, S. 102) angedeutet wird als »Verwandlung« bzw. die Fähigkeit dazu. Es kann als »die gegenseitige Verwandlung«, als »die Verwandlung durch einen Anderen«[20] verstanden werden, und eben dazu wäre im Wertsystem des Romans die Liebe notwendig, und zwar eine Liebe, in der verschiedene Gegensätze, Triebhaftes und Geistiges, Höheres und Niedriges miteinander im Einklang sind und auch das angestrebte »Eins-werden mit sich selber« ermöglichen.[21] Dieser Prozeß kann gewissermaßen auch als ein Entwicklungsprozeß aufgefaßt werden, »als eine Kette von Spiegelungsmöglichkeiten«, denn: »Durch die Begegnung mit der eigenen Spiegelung gewinnt der Mensch ein Bewußtsein von seiner inneren Ambivalenz, [...]. Erst durch die Aufdeckung der eigenen Komplexität wird es dem Menschen möglich, sich für eine bestimmte Rolle im Leben zu entscheiden.«[22] Obwohl diese Möglichkeit im Andreas-Roman nicht vollständig ausgeführt werden konnte, deuten die analysierten Züge eben auf eine solche mythisch-utopische Lösung der Identitätsproblematik hin.[23]

2.3.

Im Roman A gólyakalifa (Der Kalif Storch) von Babits, wo der Titel gleich eine markierte intertextuelle Bezugnahme ist[24] und auf die Identitätsproblematik direkt hinweist, geht es wiederum - in teilweise phantastischer Ausprägung[25] - um gestörte Identität bzw. um die Möglichkeit und/oder Unmöglichkeit der Herstellung von Identität im Sinne einer konsistenten Selbst- und Weltinterpretation. Beim ersten Zusehen handelt es sich hier um eine Pubertätskrise, denn der am Anfang der Erzählung 16jährige Elemér Tábory erlebt die Begegnung mit der Welt, mit dem notwendigen Erwachsenwerden und mit seiner eigenen Sexualität als eine Spaltung in ein eigentliches und ein scheinbares Ich, in ein Tages- und Traum-Ich. Das Ich des Tages ist ein guter und interessierter Schüler mit einer hervorragenden Intelligenz, der in einer wohlsituierten, harmonischen, ihn annehmenden familiären Umgebung lebt. Eine zufällige Begegnung, die Erscheinung eines Fremden auf einem Fest, der in ihm das Gefühl des »déjà vu« erweckt, als kennte er den Mann seit langem, erweckt auch sein zweites Ich und die Ahnung, daß »ez az egész világ egy kép« (»diese ganze Welt nur ein Bild sei«), die wirkliche aber mit seinem eigenen Ich dahinter zu suchen wäre. Im zweiten Leben ist er ein eher dummer, unglücklicher Tischlerjunge, der von seinem Meister (der mit der diese zweite Existenz hervorrufenden Figur des Fremden identisch ist) und den anderen Leuten gequält und gedemütigt wird. Das Leben von Elemér Tábory gestaltet sich dann zwischen den beiden Polen der Tages- und Nachtexistenz: obwohl er in seiner »eigentlichen« Welt weiterlebt, das Abitur ablegt und als Mathematiker studiert, kommt es eben in Venedig, in der Stadt seiner Träume (!), zum Überhandnehmen der Ambivalenz, d.h. zum Treffen mit der ersten und glücklichen Liebe, aber auch zu einem seine weitere Existenz bestimmenden Durchbruch seines zweiten Ich, das ihn in seinen Träumen immer mehr quält, und das durch die Fähigkeit, es genau in seine Erinnerung zurückzurufen, auch immer dominierender und übergreifender wird. Das andere Ich setzt sein moralisch immer mehr herabgekommenes Leben fort (er stiehlt, betrügt und wird am Ende zum Mörder einer Prostituierten), um am Ende Selbstmord zu begehen, der auch zum Tode des »eigentlichen« Ich von Elemér Tábory (eben vor einem weiteren glückserfüllenden Schritt seines Lebens, nämlich vor seiner Verlobung) führt.

Obwohl der Roman von Babits das Problem mit gewissen anderen Akzenten behandelt, lassen sich einige Berührungspunkte mit Andreas erkennen. Die Möglichkeit und die Gefahr einer Doppelexistenz tauchen in A gólyakalifa auch als zentrales Problem auf:

Ki tudja, nem él-e valamennyiünknek, minden földi embernek egy ilyen másodpéldánya, egy sötét árnyképe, álmaiban, tudata alatt, és valahol messze testileg is, igen testileg, egy messze világban, egy más csillagon? [...] Talán nem is olyan sötét, szomorú? Talán éppen ilyen, csak a szerepek vannak felcserélve? (S. 118)[26]

Die Annahme einer zusammengesetzten Persönlichkeitsstruktur wird hier sogar zum strukturgestaltenden Prinzip der fiktiven Welt: darin folgt Babits auch der intertextuellen Princeschen Vorlage (und der ihm ebenfalls bekannten psychoanalytischen Theorie von Freud, die im Roman, wenn auch nicht explizit beim Namen, aber doch erwähnt wird: »Van most errõl egy divatos könyv, egy bécsi orvos írta, de az nem gyerekeknek való«[27]). In der literarischen Auseinandersetzung und Gestaltung des ungarischen Schriftstellers werden die Persönlichkeitsteile ebenso auf zwei einander ausschließende Hälften reduziert wie in Andreas, sie repräsentieren zugleich (eben wie bei Hofmannsthal) auch komplementäre Seiten der menschlichen Persönlichkeit (Trieb und Geist, reine Sexualität und reine Liebe, moralisch Niedriges und moralisch Höheres, Bewußtes und Unbewußtes usw.).[28] Das gilt nicht nur für die Hauptfigur, sondern in A gólyakalifa erscheint eine vollständig ausgeführte Doppelwelt, indem jeder Figur aus der Umgebung von Elemér Tábory eine andere als ihr Pendant in der Welt des Tischlerjungen bzw. späteren kleinen Büroangestellten entspricht. Die höchste Krise für Elemér Tábory löst eben die Erkenntnis der Identität seiner idealisiert-sublimierten Geliebten, der »Engelsgestalt« Etelka, mit der Prostituierten in der Traumwelt aus: »Olyan gondolatai jöttek -, ah persze, ez csak olyan futó gondolat volt - nem egyéb - mintha az a leány - [...] - esetleg hasonlíthat - Etelkához. Ó, ez a gondolat, ez a gondolat maga nem aláz-e meg örökre, nem teszi-e lehetetlenné, hogy valaha még szemébe merhessek nézni Etelkának?« (S. 166)[29] Durch die Andeutung läßt sich auch eine, wenn auch verborgene, triebhafte Seite der »überirdischen« Braut ahnen, und das ist es eben, wovor Elemér Tábory zurückschrickt, um seine eigenen verdrängten Bewußtseinsinhalte und Triebe in seinem »zweiten Leben« zu erleben.

Die Suche nach der Identität bzw. nach dem anderen Ich äußert sich in A gólyakalifa zugleich auch als der Versuch, den Figuren und Orten des Traum-Ich Namen zu geben bzw. ihre (Kalif-Storch-artig vergessenen) Namen in die Erinnerung zurückzubringen, bewußtzumachen, obwohl hier kein Zauberwort mehr wie »Mutabor« zur Verfügung steht: »Hát ki vagyok én álmomban? Mi a nevem? Milyen nyelven beszélek? [...] ezt, éppen ezt nem tudom. Nem tudom, mi a nevem. [...] Egyetlen névre sem emlékeztem.« (S. 116)[30] Die Namengebung bedeutete eigentlich eine Art Bewußtmachung der unbewußten Inhalte und dadurch auch eine mögliche Selbst- und Weltinterpretation. Eine ähnliche Möglichkeit wäre auch das Aufzeichnen, die Verbalisierung der Trauminhalte, die zugleich die Herrschaft des verbalisierenden, bewußtmachenden Persönlichkeitsteils und damit eine Verbannung des Unbewußten mit sich bringen könnte. Die erzählte Geschichte zeugt aber eben vor einer immer größeren Vermischung und Identifizierung des bewußten Ich mit dem unbewußt traumhaften:

Ó, Istenem, rögtön, rögtön éreztem, hogy valami rettenetes, visszahozhatatlan történt: öltem, és hogy én öltem: Tábory Elemér; gyilkos vagyok: Tábory Elemér gyilkos. [...] Elromlott az életem, ezekkel az emlékekkel nem folytathatom így tovább, örökre méltatlan lettem erre az édes, szent, otthoni környezetre. (S. 165)[31]

Der Traum erscheint bei Babits als grundsätzlicher Katalysator der Vorgänge und dominiert viel mehr als in Hofmannsthals Roman, wo der Traum nur eine Möglichkeit des Erlebens der zwiespältigen Identität ist. In A gólyakalifa geht es vielmehr darum, die Kategorien »Traum« und »Wirklichkeit« miteinander zu vermischen, ineinander übergehen zu lassen, so daß sie ihre scharfen Konturen, ihre Grenzen verlieren und dadurch auch die Grenzen der Persönlichkeit bzw. der bewußten und unbewußten Persönlichkeitsteile verwischen:

az egy közönséges folytatólagos álom, [...] de az ébrenlétbe nem nyúlik bele, és valószínûleg majd elmúlik. [...] Csak egy rossz álom. De volt már rá eset, hogy egy álom ilyen makacsul, ilyen szabályosan kitartott volna? És lehet-e elhinni, hogy álom az, ami ilyen részletes és reális? ami ilyen pontos, aminek ennyi valóságíze van? Hisz sokszor inkább úgy tûnik fel, hogy ez az álom az életemnél valóságosabb, és el tudnámm hinni, hogy ez a szép élet az álom [...]. (S. 74-75)[32]

Die Wirklichkeitsähnlichkeit der Träume bzw. der verschiedenen Bewußtseinsinhalte äußert sich auch in den symbolhaften Ortsbeziehungen: das glückliche Leben von Elemér Tábory ist an eine Kleinstadt und ihre harmonische, durchschaubare, natürliche und soziale Struktur gebunden, wo der Mensch im Einklang mit sich selbst und mit der Umgebung leben könnte (und mit Ausnahme von Elemér Tábory auch lebt).[33] Das unglückliche Ich lebt zuerst in einem Vorort einer (nicht genannten, weil mangels bewußter Erinnerung nicht nennbaren) Großstadt[34], die in ihrer natürlichen wie sozialen Struktur undurchschaubar und menschenfremd, sogar menschenfeindlich und schreckenerregend ist: »De legkülönösebb volt a folyó partja. A nagy hidak ijesztõen, végeérhetetlenül íveltek bele a szürke semmibe. Iszonyú pilléreiket az ûrbe mártogatták. A rakparton nagy foszlányos alakok õdöngtek-imbolyogtak egyedül, mint a kísértetek.« (S. 155)[35] Hier kann der Mensch nur sein Gesicht und seinen Namen, d.h. seine Identität verlieren.

Es ist interessant zu erkennen, daß in diesem Roman Venedig ebenfalls als katalysatorhafter Ort erscheint: in das durch die endlich gefundene Liebe harmonisch gewordene Leben von Elemér Tábory bricht eben hier seine andere, niedrige Welt endgültig und alles übergreifend ein. Die Stadt Venedig erscheint zwar als Ort der Harmonie: »A simaságnak éppúgy városa volt ez, mint a csöndnek. A sima kõ, a sima víz városa« (S. 94),[36] aber unter dieser harmonischen Oberfläche verbirgt sich etwas Gefahrvolles, das die eigene Spaltung hervorrufen kann: »Olyan szép volt akkor minden, minden a világon. Oly vészjóslóan szép - és én titokban féltem, féltem ezen a szép délutánon, és úgy képzeltem, mintha érezném megmozdulni lelkelmen a rémet« (S. 94).[37] Der schöne Schein von Venedig ist ambivalent und generiert mögliche Ambivalenzen.[38]

Die Lösung der Identitätsproblematik ist in A gólyakalifa der des Andreas-Romans entgegengesetzt. Während es bei Hofmannsthal eher auf Vereinigung ankommt, sei es durch die allomatische Lösung oder auf andere und eben im Mythischen wurzelnde utopische Weise, zeichnet sich bei Babits eine im Verhältnis zu Hofmannsthal im Phantastisch-Psycho(patho)logischen verankerte skeptische Lösung ab: die Vereinigung der getrennten Persönlichkeitsteile ist in A gólyakalifa erst durch die äußerste Form der Trennung, durch die Trennung vom Leben, durch den Tod möglich, wobei - und das deutet doch auf eine tiefe Zusammengehörigkeit hin - der Tod des einen Ich zugleich auch den Tod für das andere Ich und damit eine »tödliche Einheit« im konkreten wie im übertragenen Sinne des Wortes bedeutet.

3. Identität als Zeitproblem

Nach dem Vergleich zweier Romane, die - wie es aus meiner Analyse hoffentlich ersichtlich ist - in den oben genannten Punkten miteinander tatsächlich in Verbindung gebracht werden können, ergibt sich über diese konkrete Fragestellung hinaus natürlich auch die Frage einer Erweiterungsmöglichkeit des Untersuchungshorizonts, nämlich ob diese Erscheinungen über das zufällige Zusammentreffen hinaus auf etwas Allgemeineres hinweisen. Die zwei Werke thematisieren meiner Ansicht nach eine Identitätsproblematik, die sich um die Jahrhundertwende bei beiden Autoren und in den beiden Kulturen besonders zuspitzte.

(a) Die erwähnte Problemstellung taucht bei beiden Autoren keineswegs einmalig auf, vielmehr zeigen beide Romane sehr konzentriert ein zentrales Anliegen. Die Möglichkeit einer Identität im obigen Sinne durchzieht das Prosawerk von Hofmannsthal und zumindest die frühen Prosawerke von Babits (ihre Leistungen als Lyriker bzw. die Fragen nach ihrer Lyrik werden hier bewußt und absichtlich ausgeklammert). Die frühen Erzählungen von Hofmannsthal wie Das Märchen der 672. Nacht, Das Erlebnis des Marschalls von Bassompierre, die Reitergeschichte oder auch die nach dem Andreas-Roman (zumindest nach dem zusammenhängenden Textteil) entstandene Frau ohne Schatten thematisieren die Identitätsproblematik mit unterschiedlichen Akzenten, aber auch mit vielen ähnlichen Zügen.[39] Der Andreas-Roman erscheint als eine durch die besondere intertextuelle Vorlage der psychologischen Studie von Prince geprägte Variante dieser Gestaltung des Problems, wobei die intertextuelle Vorlage eben eine besondere Färbung der Behandlung des Themas sichert, die allgemeine Konzeption aber, die auch in den aufgezählten anderen Werken auffindbar ist, nicht wesentlich beeinflußt.[40]

In den frühen Erzählungen/Novellen von Babits (darunter verstehe ich hier die ungefähr bis zum Erscheinen des Romans A gólyakalifa publizierten Erzähltexte) tauchen auch Momente auf, die in einem allgemeineren Rahmen als Identitätsprobleme oder zumindest als Elemente einer Identitätsstörung oder einer labilen Identität interpretiert werden können. Erscheinungen der fiktiven Welt wie die Unsicherheit des Individuums in der Interpretation der es umgebenden Welt und seiner eigenen Wahrnehmungen, die verschiedenartige Deutbarkeit bestimmter Phänomene und auch traumartige Zustände als mögliche Varianten der Welt- und Selbsterfahrung, lassen sich in den Erzählungen Kezdõdik Éliás testvér hiteles története, Karácsonyi Madonna, Novella az emberi húsról és csontról, Mese a Decameronból beobachten. Diese Tatsache zeugt von einer Empfindlichkeit und Offenheit des Erzählers Babits gegenüber solchen Problemen, die dann eben in A gólyakalifa ihre äußerste Zuspitzung erfahren.

(b) Die zwei untersuchten Romane artikulieren das Problem der »Unrettbarkeit des Ich« zugleich auch als die »virulente Problematik der Jahrhundertwende«.[41] Zwei Momente werden in dieser Artikulation besonders wichtig: einerseits verbinden diese Texte die eigene kreative Behandlung dieser Fragen mit einer langen literarisch-kulturellen Tradition, die vor allem durch die Romantik besonders stark akzentuiert worden sind. Hofmannsthals Roman greift aber eher auf die vor allem im Werk von Novalis vertretene Auffassung zurück, die zumindest die Möglichkeit einer mythisch-mysthischen Identität des Menschen mit sich selbst und der Welt voraussetzt.[42] Der Roman von Babits nimmt dagegen durch den symbolhaften Titel und die Wiederaufnahme bestimmter Hauffscher Elemente (z.B. der Suche nach dem vergessenen Zauberwort oder der Erinnerbarkeit des anderen Ich) Bezug auf eine ebenfalls romantische Artikulation der gefährdeten Identität, die im Doppelgängermotiv ihren prägnantesten Ausdruck findet. Damit schließt sich Babits auch Traditionen an, die er in späteren Überlegungen eher ablehnt oder zumindest verdrängt[43].

Andererseits liefert für beide Autoren das Studium der Psychoanalyse einen weiteren Beitrag zur literarischen Gestaltung des Problems.[44] Hofmannsthal beschäftigte sich mit psychologischen Fragen im Interesse einer Vertiefung ihrer möglichen literarischen Bearbeitung und kannte wichtige psychoanalytische Arbeiten seiner Zeit (u.a. einige von Freud[45]), und auch Babits kannte die wichtigsten Ergebnisse der Freudschen Theorie (es gab ja wichtige Verbindungen der Psychoanalyse zu Ungarn, die ihm auch den Zugang dazu erleichterten).[46] Sein späterer Roman Tamás Virgil fia (Der Sohn von Virgil Tamás) zeigt auch deutliche Elemente als Spuren der psychoanalytischen Auffassung in der sensiblen Gestaltung der verschiedenen Phasen und Arten der Vater-Sohn-Beziehungen der Figuren.

Diese zwei Momente (die romantische Tradition und die Psychoanalyse) sind außerdem durch weitere Bezüge miteinander verbunden, indem die Romantik in der Gestaltung der für sie ebenfalls zentralen Identitätsproblematik latente bzw. theoretisch noch nicht systematisch bearbeitete psychologische Kenntnisse (es ist ja auch die Zeit der ersten Schritte einer unabhängigen Psychologie) und manche Erkenntnisse über die Mehrschichtigkeit der menschlichen Psyche sowie über die Wichtigkeit nicht-bewußter psychischer Vorgänge vorwegnimmt, die dann die Psychoanalyse systematisch analysiert und in einer zusammenhängenden Theorie artikuliert[47]. Die so bereicherte Persönlichkeitsauffassung ist auch dazu geeignet, solche Probleme zu thematisieren wie den Verlust alter Identifikationsmuster am Ende des 19. Jahrhunderts und »die Unmöglichkeit des neuzeitlichen Menschen, sich nach Aufklärung und industrieller Revolution in irgendeinem herkömmlicherweise angebotenen System der Transzendenz seines Daseins zu versichern«.[48] Dadurch läßt sich auch eine Konzeption der Person literarisch gestalten, die eben die dem Menschen innewohnenden, aber jeweils nur partiell realisierten und/oder realisierbaren Möglichkeiten bzw. die fließend gewordenen Grenzen des Ich innerhalb seiner selbst und auch nach außen als das menschliche Wesen und dadurch eine immer größere Komplexität des Individuums erkennen läßt[49] (wovon Musils Möglichkeitsmensch bzw. Mann ohne Eigenschaften vielleicht gar nicht mehr so fern ist). Sich an allgemeine literarische Entwicklungen in Europa anschließend und sie eigenartig weiterführend artikulieren die beiden Romane Andreas und A gólyakalifa als symptomatische Erscheinungen auch das Problem der unsicher gewordenen Stabilität der Persönlichkeit, den Verlust der Identität, der seelischen Heimat, die eigentlich eine gemeinsame ist, gemeinsam eben in ihrer Unheimlichkeit, die wahrscheinlich nicht zufällig in dem sonderbaren und ebenfalls identitätsgestörten Doppelstaat der Österreichisch-Ungarischen Monarchie entstehen konnte.

Literatur

Fußnoten

[1] Vgl. den Aufsatz von Juliette Spering, der auch »Identitätsprobleme« in den beiden untersuchten Romanen nachweist bzw. ihre Verwandtschaft in eben diesen Identitätsproblemen aufzufinden meint (Spering 1983).
[2] Ibid., S. 140: »Hofmannsthal hat Prousts Recherche gerade für die Arbeit am Andreas gelesen«; das Auffinden von »Anregungen« oder Beziehungen von Hofmannsthal zu weiteren zeitgenössischen Autoren und Werken würde den Rahmen meiner Betrachtungen sprengen, und es gehört auch nicht zu meinem eigentlichen Thema, deshalb gehe ich auf solche Fragen nicht weiter ein.
[3] Erst in diesem Jahr ist die kritische Ausgabe, die alle nachgelassenen Aufzeichnungen enthält und sie entsprechend ordnet, erschienen, so daß sich die frühere Andreas-Forschung notwendigerweise auf ebenso frühere, nicht vollständige Ausgaben beschränkt sah, was aber an manchen Ergebnissen nichts wesentlich ändert.
[4] Zu den überlieferten Textteilen des Andreas vgl. Pape 1974: 364; über die Datierung der verschiedenen Entwürfen, Niederschriften und Notizen vgl. ibid., S. 363 und Alewyn 1967: 133f.
[5] Vgl. dazu Rába 1983: 94
[6] Hofmannsthal 1982: 119 (im weiteren werde ich die Andreas-Zitate mit der Abkürzung KA und der entsprechenden Seitenzahl angeben).
[7] Vgl. die Notiz 33, in der ein Wort des Titels des Princeschen Buches, d.h. »Dissociation« genannt und außerdem die Bezeichnungen von Prince für die abgespalteten Persönlichkeitsteile (»Sally«, »BI«, »BII«) übernommen werden (KA, S. 21).
[8] Über die Erschließung dieser intertextuellen Vorlage und ihre Wichtigkeit für Andreas vgl. Alewyn 1967: 135ff.
[9] Babits 1981: 71 (die weiteren Zitate aus A gólyakalifa werden nur durch die Seitenzahlen gekennzeichnet; die deutschsprachigen Versionen der Zitate sind meine eigenen Übersetzungen): »Er antwortete nicht; er suchte streng weiter. Und allerlei Bücher kamen zum Vorschein, deutsche, englische, französische psychologische Arbeiten, dicke Bände mit wunderbaren Titeln. L'Automatisme Psychologique... The Dissociation of a Personality...«
[10] Es wurde trotzdem mehrmals versucht; eine der vollständigsten Analysen, die eine durch die existierende Textgestalt nicht völlig gerechtfertigte nachträgliche Identität des Textes schafft, ist Alewyns Rekonstruktion der (einer!) möglichen Fortsetzung des Fragments (vgl. Alewyn 1967), wodurch er einen offenen und unabgeschlossenen Text zu einem abgeschlossenen und geordneten macht.
[11] Ich beziehe mich vorwiegend auf den zusammenhängenden längeren Textteil, zur Erhellung mancher Fragen werde ich aber auch einige Notizen heranziehen.
[12] Die Fragwürdigkeit von Identität zeigt sich auch in den Schwierigkeiten der Benennung, der Namengebung, die selbst eine Art Identifikation ist, indem die Hauptfigur zuerst (in den frühen Notizen) Leopold heißt, dann aber Andreas, wobei hier noch ein Schwanken zwischen den Formen Andreas und Andres zu beobachten ist. Ähnliches gilt auch für einige andere Figuren (z.B. Maria - Mariquita, der Malteser).
[13] Alewyn 1967: 149
[14] Über das Venedig-Sujet und seine symbolhafte Bedeutung bzw. seine Variation bei Hofmannsthal, wobei es sich um eine »kunstvolle Variation des ihm schon vorgegebenen Venedig-Sujets«, d.h. um eine intertextuelle Bearbeitung, handelt, vgl. Nienhaus 1992: 91-95
[15] Wieser 1957: 408
[16] In einer frühen Notiz wird dieses Motiv sogar als Motivation betont: »Leopold geht hauptsächlich (wenn er auf den Grund geht) darum nach Venedig, weil dort die Leute fast immer maskiert gehen.« (KA, S. 13)
[17] Alewyn 1967: 157. Obwohl Alewyn hier vor allem über die abgespaltenen Persönlichkeitsteile von Maria-Mariquita spricht, die es zu verschmelzen gilt, sollten auch die verschiedenen Persönlichkeitsschichten des Andreas (das Bewußte und das Unbewußte, das Angenommene und das Verdrängte usw.) miteinander in Einklang gebracht werden können.
[18] Damit haben wir es hier mit einer »alternierenden Persönlichkeit« als Doppelgänger zu tun, wie es auch im berühmten Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde zu beobachten ist (vgl. darüber auch Hildenbrock 1986: 121ff.).
[19] Über Gotthelf als Doppelgänger von Andreas vgl. auch Wiethölter 1990: 131.
[20] Vgl. Pape 1975: 680; hier wird auch auf mögliche Quellen (Rosenkreuzer-Schriften) der Allomatik hingewiesen.
[21] Vgl. ibid., S. 691
[22] Ryan 1970: 190
[23] Manche intertextuellen Bezugnahmen der Notizen auf Novalis (z.B. die Notizen 65, 73, 74, 78) verstärken den Eindruck dieser mythisch-utopistischen Auflösung der Problematik, die Hofmannsthal (wie auch Novalis) nicht vollständig realisieren konnte.
[24] Der Roman von Babits bezieht sich hier auf Hauffs Märchen Die Geschichte von Kalif Storch.
[25] György Rába nennt A gólyakalifa einen phantastischen Roman (Rába 1983: 94), was auf Grund bestimmter Eigenschaften phantastischer Texte, z.B. der nicht aufgelösten/auflösbaren Ambiguität (vgl. Todorov 1970: 29ff.), tatsächlich berechtigt ist. Außerdem ist das Werk zugleich ein psychologischer Roman, der ein tiefgehendes psychologisches Problem in phantastischer Form behandelt.
[26] »Wer weiß, ob nicht auch so ein Doppelexemplar, ein dunkles Schattenbild von uns allen, von allen irdischen Menschen in den Träumen, im Unbewußten und zugleich irgendwo weit entfernt auch körperlich, ja körperlich in einer fremden Welt, auf einem anderen Stern lebte? [...] Vielleicht ist dieses Leben gar nicht so dunkel und traurig? Vielleicht ist es ebenso, nur die Rollen sind vertauscht?«
[27] S. 50; »Es gibt jetzt ein Buch darüber, das sehr in Mode gekommen ist, ein Wiener Arzt hat es geschrieben, aber es ist nicht für Kinder.«
[28] Es wäre zu erwägen, ob durch eine Erweiterung der Figurenkonstellation die Triaden Sacramozo - Andreas - Gotthelf, bzw. der seine Geschichte aufzeichnende und bewußtmachende Elemér Tábory - der »handelnde« Elemér Tábory -, der Tischlerjunge, nicht als der Freudschen Persönlichkeitstriade (Über-Ich - Ich - Es) entsprechend gedeutet werden dürften.
[29] »Solche Gedanken kamen ihm in den Sinn - oh, das war natürlich nur ein flüchtiger Gedanke - nichts anderes - als ob jenes Mädchen - [...] - Etelka ähnlich sein dürfte. Oh, dieser Gedanke, dieser Gedanke allein erniedrigt mich vielleicht für immer, denn macht er nicht unmöglich, daß ich Etelka je noch in die Augen sehen könnte?«
[30] »Wer bin ich denn in meinen Träumen? Was ist mein Name? Welche Sprache spreche ich? [...] Das ist es eben, was ich nicht weiß. Ich weiß meinen Namen nicht [...]. Ich erinnerte mich an keine Namen.«
[31] »Oh, mein Gott, ich habe gleich gespürt, daß etwas Schreckliches, Unwiderrufliches geschehen ist: ich habe gemordet, und daß ich: Elemér Tábory, ein Mörder bin: Elemér Tábory ist ein Mörder [...]. Mein Leben ist kaputtgegangen, ich kann es mit diesen Erinnerungen belastet nicht fortsetzen, ich bin dieser süßen, heiligen, heimatlichen Umgebung auf immer unwürdig geworden.«
[32] »Das ist ein gewöhnlicher Fortsetzungstraum [...] aber er reicht ins Wachsein nicht hinein, und er wird wahrscheinlich vergehen. [...] Nichts als ein schlechter Traum. Ist es aber je vorgekommen, daß ein Traum so hartnäckig, so regelmäßig zurückkam? Und könnte man glauben, daß es ein Traum ist, was so detailreich und reell ist? Ws so genau ist und so viel Wirklichkeitsgeschmack hat? Denn oft scheint es eher, daß dieser Traum wirklicher ist als mein Leben, und ich könnte glauben, daß dieses Leben ein schöner Traum ist [...].«
[33] Das erinnert in gewisser Hinsicht an die Episode auf dem Finazzerhof in Andreas.
[34] Natürlich zeigt diese Großstadt Züge des damaligen Budapest, das ist aber keine Frage der erzählten fiktiven Welt mehr.
[35] »Am sonderbarsten war aber das Flußufer. Die großen Brücken ragten schrecklich, endlos ins große, graue Nichts. Sie streckten ihre grauenerregenden Pfeiler ins leere All. Auf dem Kai flanierten-taumelten verschwommene einsame Gestalten wie Geister vorüber.«
[36] »Das war eine Stadt der Glattheit wie der Stille. Die Stadt des glattpolierten Steins, des glatten Wassers.«
[37] »Alles, alles auf der Welt war in diesem Moment so schön. So gefahrdrohend schön, und es kam mir vor, als spürte ich das Monster sich in meiner Seele regen.«
[38] Über einige Aspekte des Venedig-Topos in der ungarischen Literatur vgl. Németh 1995: 32ff.
[39] Über diese Ähnlichkeiten der frühen Prosawerke von Hofmannsthal gibt die von Csúri herausgearbeitete Grundstruktur der Texte einen guten Überblick; vgl. Csúri 1978. Eine andere Annäherung repräsentiert Judith Ryan, wobei sie auch zur Feststellung bestimmter gemeinsamer Züge der Hofmannsthal-Erzählungen kommt, die sie in den Varianten einer »Konfiguration«, d.h. der »Gruppierung von Gestalten« auffindet. (Ryan 1970: 192f.)
[40] Vgl. darüber auch Ryan 1970: 206f.
[41] Der Ausdruck »Unrettbarkeit des Ich« ist ein Ausdruck von Ernst Mach und wird von Spering zitiert, vgl. Spering 1983: 141
[42] Vgl. darüber Alewyn 1967: 151 und 197
[43] Interessanterweise würdigt Babits z.B. in seiner Geschichte der europäischen Literatur besonders solche Vertreter (vor allem E.T.A. Hoffmann) der deutschen Romantik nicht besonders, die eben die gefährdete Identität des Menschen in phantastisch-tragischer Ausprägung formulieren, was aber in A gólyakalifa doch dominant wird und Babits in gewisser Hinsicht eher als einen Nachfolger solcher Traditionen erscheinen läßt.
[44] Über den Einfluß dieser zwei Quellen auf Hofmannsthals Andreas-Roman vgl. Ryan 1970: 190f.
[45] Einige konkrete Informationen dazu liefert Alewyn 1967: 149
[46] Sándor Ferenczi war einer der frühesten und engsten Mitarbeiter von Freud, der selbst wichtige Beiträge zur Psychoanalyse geleistet hat, durch seine ungarischen Beziehungen, besonders durch Ignotus entstanden enge Beziehungen zur Zeitschrift Nyugat, in der auch Babits publizierte (vgl. darüber Nemes 1994: 63ff. und Kassai 1990).
[47] Es scheint mir auch nicht zufällig, daß Freud in seinen Ausführungen über das Unheimliche eben E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann analysiert, denn dieser Autor war es, der die psychologische Kompliziertheit des Individuums unter den Romantikern am vielschichtigsten darzustellen und anzudeuten vermochte.
[48] Vgl. Wunberg 1989: 198f.
[49] Über das Konzept der Person und die Struktur der Persönlichkeit in der Literatur um die Jahrhundertwende vgl. Titzmann 1989: 36ff.



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