PALIMPSZESZT
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Endre KISS
Der große Konflikt in der Modernisation -- Die Quelle der neuen Probleme der Heimat


Wollte man eine Begriffsgeschichte der Heimatliteratur zusammenstellen, so würde man sich vorerst mit jener der »Heimat« selber auseinandersetzen müssen. Eine Begriffsgeschichte der Heimat ließe aber gravierende Einsichten zu in die ganze Nachkriegsgeschichte, von der »Neuen Heimat« als sozialdemokratisch gehandhabter und ins Skandalon hinübergleitende Wohnungskonstruktion für kleine Leute, bis Jan Troells prächtige schwedische Filmdichtungen Die neue Heimat und die Auswanderung, oder von dem deutschen Fernsehspiel Heimat der achtziger Jahre bis zu den (»realsozialistischen«) Heimatkonstrukten des real existierenden Sozialismus. Je vollständiger aber eine solche Begriffsgeschichte wäre, um so klarer stünde jener Reichtum vor uns, dessen Reflexion den gedanklichen Anstrengungen der letzten Jahrzehnte deutlich fehlt. Je vollständiger diese Zusammenfassung wäre, um so klarer wäre es aber auch, daß die neuen Begriffsvarianten kaum jene tabuisierten Inhalte mehr enthalten, mit denen sie vor 1945 verbunden waren.

Denn die Heimat war von zwei Seiten aus tabuisiert. Auf der einen Seite galt sie stets als ein Ort heiliger Zusammengehörigkeit von Menschen und es läßt sich tatsächlich sehen, wie selten tragische Konflikte mit der eigenen Heimat Objekte höherer literarischer Darstellungen geworden sind. Der Timon von Athen könnte lange nach seinen Brüdern und Entsprechungen im Raum und in Zeit suchen. Auf der anderen Seite trugen sowohl die nationalsozialistische Kompromittierung wie auch die Suche nach intellektuellen Vorfahren des Nationalsozialismus zu einer Tabuisierung anderer Art bei, in deren Kontext Heimat wie Heimatliteratur als Bestandteile einer verborgenen Tradition angesehen worden sind. Für unsere Tage wird es zunächst ganz klar, daß sich nach 1945 eine große Menge von literarischen und außerliterarischen Phänomenen, die alle mit dem Begriff »Heimatliteratur« eng verbunden sind, angehäuft hat.

Bevor wir aber auf eine eingehendere Analyse der wirklichen, d.h. klassischen Heimatliteratur eingehen, sei noch darauf hingewiesen, daß auch die originelle und mit der Literaturpolitik des Dritten Reiches tatsächlich mehrfach verbundene Heimatliteratur ihr Schicksal in diesem Reich erlebt hatte. Und dieses Schicksal war nicht viel anders als das aller Richtungen, die mit oder ohne Recht in dieses geistige Arsenal gezählt und in es aufgenommen worden sind. Die schöpferische und gleichzeitig kategorisierende Kraft eines Parteidekretes ist hier intendiert worden:

Wie alle Werte, die dem Volke verehrungswürdig sind, kann auch die Heimat versüßlicht und verniedlicht oder unwahr dargestellt werden. Man kann sogar mit ihr Schindluder treiben, und immer wieder gab es geschäftstüchtige Schreiber, die ihr Wissen um die Bedeutung der Heimat in klingende Münze [!] umzusetzen verstanden. Besonders in Zeiten, in denen das Volk nach hoffnungslosen Irrgängen zur Heimat zurückkehrte, schoßen die Geschäfte dieser Leute aus dem Felde des Schrifttums hoch wie Pilze nach einem warmen Regen. Da saugte in jäher Erleuchtung der Held bei jedem dritten Abschnitte neue Kräfte aus der >mütterlichen Scholle< und selbst der Buchumschlag roch schon wie Ackererde. Nur war dieser Geruch nicht echt, sondern in der Retorte nach raffgierigen [!] Berechnungen erzeugt. Dabei wird erstaunlich, wie rasch sich diese Mannen jedem Wechsel anzupassen vermögen. Während im Sommer 1933 die berufenen Gestalten noch mühsam die Menge der neuen Erkenntnisse zu bewältigen und zu ordnen suchten, hatten jene Zeitgenossen ihre Handlungsträger, die zuvor noch im Kaftan [!] untergingen, schon in die älteste Tracht gesteckt, und waren sie früher schwarz wie die Nacht, so strahlten sie nunmehr blond wie Siegfried.[1]

Wir zitierten diesen Text nicht vor allem aus dem Bedenken, daß die konkreten »ideologischen« Vorbehalte im Dritten Reich gegen die Gattung der Heimatliteratur bewußt wird, wir lenkten die Aufmerksamkeit auf dieses Zitat aus dem Grunde, weil die Untersuchung des wirklichen Schicksals jeder literarischen oder künstlerischen Richtung, aber auch jeder philosophischen Strömung im Dritten Reich unvermeidlich zur Feststellung neuer »ideologischer« Probleme führt, die kaum etwas mit der wirklichen oder nur gemeinten, gefälschten oder ungefälschten »Nähe« einer literarischen oder philosophischen Richtung zum Dritten Reich um das Jahr 1933 zu tun haben.[2]

Für eine Rekonstruktion der klassischen und ursprünglichen Heimatliteratur stehen uns im wesentlichen zwei Wege offen. Der eine ist in der Hamsun-Analyse Leo Löwenthals exemplarisch zusammengefaßt worden. Seine Methode fokusiert die ideologiekritische Methode des intellektuellen Marxismus in Deutschland, der später als die spezifische »wissenssoziologische« und »ideologiekritische« Methode der Frankfurter Schule an die Öffentlichkeit ging. Der andere von uns für sinnvoll gehaltene Weg öffnet sich vor uns auf den Spuren von Otto Bauers Analyse des Zerfalls des bäuerlichen Eigentums in Europa, vornehmlich aber auch in Deutschland und Österreich-Ungarn und seiner Darstellung des (auf die Sprache des klassischen Marxismus zurückgehenden) Eindringens des Kapitalismus, bzw. der Modernisation in die Provinz und sinngemäß auch in die Landwirtschaft. Es liegt auf der Hand, daß dieser Prozeß als lebensweltlicher Hintergrund hinter der Heimatliteratur steht.

In Leo Löwenthals Argumentation wird vorerst das in der klassischen und ursprünglichen Heimatliteratur zentrale Motiv der Natur unter eine starke ideologiekritische Lupe gehalten. In dieser Beleuchtung erscheint die Natur als ein Feld der unbegrenzten Projektion: »In der nachliberalen Ideologie breitester bürgerlicher Schichten spielt die Natur eine ausgezeichnete Rolle. Die Stadt hört auf, einen Phantasieraum für die auf Glück und Macht gerichteten Träume zu bilden, wenn sie nur der lästige Inbegriff von Mauern und schmalen Existenzen wird [...]«.[3] Schon dieser erste Satz Löwenthals verrät die Größe und gleichzeitig die Mängel dieser ausschließlich wissenssoziologischen Interpretation. Es wird deutlich, daß für Löwenthal (auch) die Heimatliteratur als ein Symptom von einer bereits durchgeführten geschichtsphilosophischen und wissenssoziologischen Analyse erscheint. Kein Wunder, daß diese Exposition gleich mit der Charakterisierung der Gesamtproblematik der Zeit erscheint: »Mit der spürbar zunehmenden Irrationalität des Lebens in der Wirklichkeit ist es auch mit dem Glauben an die Rationalität des eigenen Schicksals zu Ende, der die liberale Ideologie, ihre prinzipiell optimistische Haltung gekennzeichnet hatte«.[4] Nach diesem globalen geschichtsphilosophischen Bild wird die Sicht der Analyse soziologisch konkretisiert:

Angesichts der unabwälzbaren Mühsal, welche die durchschnittliche bürgerliche Existenz in ihrer Hast nach Erfolg, Prestige, Besitz, Sicherheit zu bringen hat, eine Hast, deren Einförmigkeit durch die normalerweise mageren Resultate nicht [...] wird, erscheint der unmittelbare Verkehr mit der Natur als Eintritt in den Bereich menschlicher Freiheit.[5]

Diese soziologische Konkretisierung erweist sich, wie sich aus dieser Methode mit Selbstverständlichkeit ergibt, schon als die ganze Erklärung des zu untersuchenden Problems. Jeder relevante Bestandteil der späteren Erklärung läßt sich aus dieser ideologiekritischen und geschichtsphilosophischen Verallgemeinerung wie selbstverständlich »ableiten«: »Im Genuß der Landschaft ist jene Sphäre mit einem Schlage ausgelöscht, es gibt nicht mehr die leiseste Erinnerung an den verwickelten Umgang mit der Natur in der Produktion, welcher unlöslich mit Konkurrenz, Feindseligkeit, Verantwortung, Mühsal verknüpft ist«.[6] Die Konkretisation wird auch auf das Einzelne ausgedehnt: »In dem unmittelbaren Verkehr mit der Natur ersteht ein Gegenbild zu der widerspruchsvollen Situation, in welcher die Teilnahme an einer zunehmenden aktiven Bewältigung der Natur mit einer zunehmenden Ohnmacht bei der Bewältigung des persönlichen Schicksals verbunden ist.«[7]

Als nächster Schritt erscheint die Diagnose, d.h. die Benennung jener Motivation, die für die gesamte historische Situation, aber auch schon für die Heimatliteratur und Knut Hamsun charakteristisch ist:

Der Mensch als beherrschtes Wesen erlebt in der Natur das bloße So-Sein, gegen dessen Veränderung durch überlegenere Mächte man wehrlos ist. [...] Die schöne Natur wird gewiß nicht vom Ressentiment der Kleinbürger entdeckt [...] Aber in dieser Phase wird der Weg zum natürlichen Bereich nicht auf der Flucht zurückgelegt.[8]

Die Benennung des sozialpsychologischen Motivs des »Ressentiment« ermöglicht es - wie es auch in anderen Untersuchungen der Fall war -, daß die Analyse im Sozialen und Politischen weiter aufgebaut und die neue Einstellung zur Natur (der die Heimatliteratur nur ein Symptom und eine Realisationsform ist) als eine Konsequenz von sozialen und politischen Zustände aufgezeigt wird:

Es geht den beherrschten Schichten mit ihrer Beziehung zu der als unbearbeitet erlebten Natur genauso wie mit derjenigen zur bearbeiteten: indem sie in beiden Situationen ihr eigenes Leben sei es befördern, sei es bestätigen, helfen sie zugleich, die von ihnen nicht geschaffenen und kontrollierten Formen dieses Lebens zu verfestigen und zu verstärken.[9]

Die ideologiekritisch rekonstruierte Position des in der Analyse von Löwenthal identifizierten und soziologisch beschriebenen Typus wird dann ebenso konsequent gerade in seinen bestimmenden Vorstellungen dem »wirklichen Bauern« gegenübergestellt:

Beim Bauern scheint das Mißverhältnis zwischen dem Anteil an der Produktion und dem Anteil an der Konsumtion, das in der industriellen Bearbeitung der Natur unter den gegebenen gesellschaftlichen Formen besteht, weitgehend aufgehoben [...]. Das, was er tut, hat eine sinnfällige Beziehung zu dem, was er genießt.[10]

Wichtig ist es zu bemerken, daß diese sehr plausible Argumentation vor dem Horizont der sechziger und siebziger Jahre einer Revision bedarf. Die für Löwenthal so einleuchtende Entsprechung zwischen einer ressentimentgeladenen, antimodernistischen Einstellung und der hier beschriebenen »Naturbindung« soll mit den Phänomenen der Studentenbewegung und den aus ihnen entwachsenden grünen Ideologien konfrontiert werden, denn eine in aller Klarheit rituell erlebte und stimulierte »Vereinigung mit der Natur« gehörte zum festen Bestandteil jener Filmproduktion und Literatur, die man ideologisch oder politisch mit der Neuen Linke in Verbindung bringen muß. Dabei gilt die These: »das, was er tut, hat eine sinnfällige Beziehung zu dem, was er genießt«, für diese Produktion als absolut. Die hinter Löwenthals Interpretation stehende These über das zu artikulierende »Ressentiment« auch durch die Gattung der Heimatliteratur soll freilich nicht zurückgezogen, die das Ressentiment erklärenden Inhalte sollten aber mit diesen späteren Entwicklungen und Phänomenen konfrontiert werden - etwa

Ressentiment in einem Sinne, der den ideologischen Interessen des Kleinbürgertums am Ende der liberalen Periode eigentümlich ist. Schon immer hat in diesen Schichten die Undurchsichtigkeit und Unkontrollierbarkeit des gesellschaftlichen Prozesses eine unendliche Fülle von Scheinphilosophien und Scheinsoziologien gezeitigt [...][11],

etc. Allerdings weist selbst die Handhabung des Ressentimentproblems eine gewiße Einseitigkeit sowohl bei Löwenthal, wie auch bei seiner Schule bzw. Methode auf. Denn durch die Absolutsetzung der Ressentiment-These kann in diesem Ansatz keine Attitüde aufgefangen werden, wo ein Traditionalismus oder einfach ein Verharren auf gewisse Wertvorstellung sich ohne Ressentiment kundtut und sich in die Richtung einer Synthese zwischen Altem und Neuem orientiert. Dieser Wille zur Synthese, der sowohl für Intellektuelle wie auch für das Alltagsleben eine unvermeidliche und triviale Problematik war, entgeht dieser Methode voll.

Otto Bauers Analysen über das Eindringen der kapitalistischen Verhältnisse als Beschreibungen jenes Realprozesses, der unter anderen auch hinter der Entfaltung und Artikulation der Gattung der Heimatliteratur steht, erscheinen als produktive Ergänzung und als produktiver Gegenpol von Löwenthals Ideologiekritik. Die hervorragende Leistung Otto Bauers dürfte jedoch keineswegs als ein singulärer oder alleinstehender Entwurf aufgefaßt werden. Wie (später) hinter Leo Löwenthal eine ganze Schule des Denkens und der Sozialwissenschaft stand, ebenso entdeckt man hinter Otto Bauer eine ganze Schule des Denkens und der Politik. Es gereicht zur Ehre des sozialdemokratischen Denkens (die ganze Zeit des Bestehens der Neuen Zeit hindurch), daß es die Entwicklungen in der Provinz, die Konsequenzen der Kapitalisierung der Landwirtschaft, nicht nur mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt hat, sondern diese Phänomene auch von Anfang an als selbständige Gegenstände, vor allem als Illustrationen von weitreichenden Umwälzungsprozessen und als die von theoretischen Thesen beobachtete und reflektierte. Während also für das linke Denken (präsentiert in unserem Zusammenhang von Leo Löwenthal) die Motivation der Entstehung der Heimatliteratur eine ideologische und psychologische war, erweist sich derselbe Gegenstand für die um eine Generation älteren Vertreter ebenfalls des linken Denkens als einer von konkreten soziologisch, politisch und wirtschaftlich identifizierbaren Realprozessen.

Bauers Analyse zeigt Schritt für Schritt auf, daß die Organisation der modernen »Fabrik« die Hausindustrie zerstört, die Arbeitsstruktur des Bauern immer enger wird und er seinen Platz unter den modernen Warenproduzenten suchen, bzw. neu definieren muß.[12] Wie wenn Otto Bauer selber schon der spezifischen Problematik der Entstehung der Heimatliteratur entgegengehen würde, vertieft er sich in der Veränderung der Psyche während dieser einmaligen Transformation. Als Fazit stellt er folgendes fest: »Die ländliche Bevölkerung ist durch den Kapitalismus entwurzelt worden, herausgerissen aus dem Boden, an den sie seit dem Seßhaftwerden des Volkes gefesselt war [...].«.[13] Diese Charakterisierung fällt Wort für Wort damit zusammen, was man als »Sujet«, oder etwas allgemeiner: als Ausgangsbedingungen der Heimatliteratur unter allen Umständen nennen sollte. Seine zeitgenössische Frage ließe sich ebenfalls auch aus der beschreibenden Kritik über ein Produkt der Heimatliteratur lesen: »Müssen wir erst ausführen, was all das für die nationale Kulturgemeinschaft bedeutet?«[14]

Leo Löwenthal und Otto Bauer stehen in unserem Gedankengang nicht für sich. Beide sind hervorragende Exponenten von bestimmten Denkrichtungen und Methoden. Verbunden sind sie vor allem (und dieser Konnex wird in unserem Versuch thematisiert) durch ihre Thematik, durch den Versuch, die moderne Geschichte unter sozialem Blickwinkel im allgemeinen, aber auch im besonderen darzustellen.

Während der Hauptstrom der historischen Entwicklung tatsächlich in einem Vordringen der Rationalität, in der Modernisierung, d.h. dem Abschiednehmen von den Mythen bestand, setzte sich andererseits auch die Ansicht durch, daß möglicherweise gerade dieser Prozeß der Rationalisierung mit auch ein Grund für die spezifischen Greueltaten unseres Jahrhunderts hätte gewesen sein können. Auf der einen Seite existiert also historisch ein genereller Verdacht, daß die Krisen und Erschütterungen unseres Jahrhunderts dem Mangel an organischer und effektiver Modernisierung entstammten, während ein anderer Verdacht besagt, daß der in Frage stehende Grund für Krisen und Erschütterungen eben die Modernisierung bzw. die Entfaltung der neuzeitlichen Rationalität selbst gewesen sei. Uns scheint, daß diese beiden Ansätze einseitig sind und weder die eine noch die andere Auffassung diesem umfassenden universalhistorischen Prozeß gerecht wird. Denn weder die positive noch die negative Einstellung zur Rationalität inkludiert die ganze und erst in dieser Ganzheit umfassende Problematik der Individualisation und der Emanzipation. Der Abschied von den Mythen, der Rationalisierungsprozeß ist nämlich ohne gleichzeitig und sich sukzessive verwirklichende Individualisation und Emanzipation keine eindeutige Progression. Die von vielen signalisierte zivilisatorische Gefahr ist also nicht direkt und ausschließlich allein mit der neuzeitlichen Rationalisierung, als vielmehr mit der Frage in Verbindung zu bringen, ob zusammen mit dem Triumphzug der Rationalisierung auch positive Schritte auf dem Wege zur Individualisation oder Emanzipation erfolgt sind oder nicht.

Die Thematisierung des weitverzweigten Problemkomplexes von Rationalisierung, Modernisation, Individualisation und Emanzipation führt nur scheinbar vom Gebiet des Literarischen und von demselben der Heimatliteratur weg. Es ist nämlich klar, daß selbst die engste literarische und literaturhistorische Diskussion nur dann aus ihren sich wiederholenden gedanklichen Kreisen und bereits existierenden starren Vernetzungen auf ein höheres Niveau erhoben werden kann, wenn die tatsächliche Problematik der Individualisation und der Emanzipation in diesen Kontext adäquat aufgenommen werden kann. Denn jede Modernisierung, Industrialisierung, d.h. jede »Rationalität« in dem theoretisch relevanten Max Weberschen Sinne, jeder »Abschied« von den traditionellen Lebensformen hat nur einen Sinn, wenn der stete und in diesem Zuge notwendige Verlust an menschlichen Werten mit einem kompensatorischen Ersatz von neuen menschlichen Inhalten, d.h. durch Individualisation und Emanzipation wettgemacht werden kann. Selbst bei der generellen Beurteilung der Modernisation (Industrialisation, Rationalisierung) soll es nämlich nicht nur darum gehen, dieses Phänomen selbständig zu untersuchen. Es soll dabei darum gehen, die Möglichkeiten der Entfaltung von Individualisation und Emanzipation als die wahre Kompensation gegen die destruktiven Tendenzen des an sich komplexen Modernisationsprozesses zu untersuchen. Nicht die wahren Leiden, Zwänge und Defizite der Modernisation sind in den Mittelpunkt zu stellen, obwohl ihre Artikulation allein schon wegen der »Seinsgebundenheit« jedes Denkens (Karl Mannheim) ein notwendiger Vorgang ist. Man darf die Modernisation, Industrialisation und Rationalisierung aber auch nicht als einen kitschigen Gang der Progression interpretieren, bei welchem das sonnige Ende die vorangegangenen Leiden wie automatisch vergessen machen können, schon aus dem Grunde, weil alle das Leid des Anderen erstaunlich gut ertragen können. Die richtige Einstellung, die sinngemäß auch bei der Interpretation der Heimatliteratur vertreten werden soll, besteht in der Anerkennung des welthistorischen Prozesses der Modernisation und der Industrialisation, wobei die Opfer der einen Seite durch den Rückgang an Individualisation und Emanzipation auf der anderen Seite ausgeglichen werden sollen.

Daraus folgt, daß die wahre Problematik der Heimatliteratur in unseren Augen nicht so sehr in der bloßen Auseinandersetzung dieser Gattung der Literatur mit dem Phänomen der Modernisation, Industrialisation oder mit einem bereits oft genannten, umfassenden Terminus, mit dem Phänomen der neuzeitlichen »Rationalisierung« besteht. Die wahre und eigentliche Problematik der Heimatliteratur besteht für uns in der Art und Weise dieser Auseinandersetzung. Das historische Schicksal der Heimatliteratur wird entschieden in der Attitüde, ob diese Literatur im Zuge und im Kontext der unaufhaltsamen Modernisation (Industrialisation und Rationalisierung) Partei für Individualisierung und Emanzipation ergreift oder aber in diesem Zuge der triumphierenden Modernisation (Industrialisierung und Rationalisierung) sich auf althergebrachte und vielfach überwundene Attitüden stützt und ihre Defensive gegen diese Trends nicht nur nicht ein Engagement für Individualisation und Emanzipation beinhaltet, sondern auch noch jene Fortschritte auf den Gebieten der Individualisation und Emanzipation zu bekämpfen sucht, die in diesem in vielem destruktiven Triumphzug der Modernisation (Industrialisation, Rationalisierung) spontan und um den Preis unbeschreiblicher Leiden der Transformation, der Entwurzelung und des Neuanfanges entstanden sind.

Bei einem Versuch, den Begriff der Individualisation zu bestimmen, sind wir bedauerlicherweise in der gleichen Lage, aus welcher heraus der französische Dichter André Gide auf die Frage, wer denn der beste moderne französische Dichter seiner Zeit sei, mit dem Satz »Leider immer noch Victor Hugo«, geantwortet hat. Denn bis heute ist es der Philosoph Arthur Schopenhauer, der die Individualisation, bzw. die Realisierung des Principium individuationis, in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt hatte. Weil er es aber in der negativen Form und durch eine negative Attitüde geleitet getan hatte, sind auch seine tatsächlich exakten, wenn nicht eben bahnbrechenden Vorarbeiten heute noch sehr schwer zu entziffern. Um seine Konzeption gebührend zu rekonstruieren, soll seine negative Attitüde mit aller Entschiedenheit in eine positive verwandelt werden. Tut man es, so bestehen keine Grenzen und Hindernisse mehr, seine Analysen nutzbar zu machen. Er beschreibt den Prozeß der Individualisation als einen, in welchem der Mensch, schon als Erwachsener, sich selbst definieren und bestimmen muß - und zwar in aller Deutlichkeit gegen seine eigene Umgebung und gegen seine eigenen geerbten Werte und Einstellungen. Spätere Wissenschaften (zum Teil Disziplinen, die erst nach Schopenhauers Tod gegründet worden sind) näherten sich diesem Phänomen auf viele Weisen, konnten jedoch nicht die Schärfe von Schopenhauers Analysen erreichen. Denn allein Schopenhauer thematisierte die Qualen und den fast unvergleichlichen Schwierigkeitsgrad dieses Prozesses, wodurch dieser wie die wichtigste Aufgabe des individuellen Lebens, d.h. als die relevanteste Lebensaufgabe erschien. Gerade nach der Erkenntnis der einmaligen Wichtigkeit des Individualisationsprozesses kommt aber Schopenhauer zu der Entscheidung, daß er vor der Individualisation zurückschreckt und auf ein vor-individuelles Menschenbild beharrt.[15]

Es gehört keine grundlegende neue Einsicht dazu, die von Schopenhauer auf eine so exakte Weise in den Mittelpunkt gestellte Problematik der Individualisation auch soziologisch und dadurch politisch zu verstehen, zu interpretieren und die unvergleichliche Relevanz dieser Problematik im Komplex der Modernisation, der Industrialisation und dadurch in dem der neuzeitlichen Rationalisierung zu erkennen. Dies bedeutet, daß die Problematik der Individualisation für uns auch der Schlüssel zur Interpretation der literarischen Gattung der Heimatliteratur wird. Existenz (Psyche, Individualisation, Emanzipation) und Geschichte (Modernisation, Industrialisation) gehen ineinander.

In der neuzeitlichen Geschichte traten drei umfassende und für den Verlauf der Moderne entscheidend wichtige Emanzipationsprozesse auf den Plan - die Judenemanzipation, die Frauenemanzipation und die (wie dies die politische Terminologie in der Periode der Zweiten Internationale ausreichend unter Beweis stellt) Arbeiteremanzipation. Es erscheint als eine gleichermaßen historische wie theoretische Frage, ob es überhaupt noch eine »vierte« oder »fünfte«, diesen drei umfassenden Emanzipationswellen ähnliche Emanzipation in der Moderne gegeben haben sollte. Die extrem beschränkte Anzahl der historisch relevanten Emanzipationsprozesse mahnt uns jedoch zur Einsicht, daß sie in ihren wirksamen Bestimmungen auch ähnlich sind. Die abgekürzte »Phänomenologie« der Emanzipation gründet auf dem autopoetischen, d.h. selbstorganisierenden Charakter jenes Prozesses, der mit der Emanzipation gleichbedeutend ist und sich durch ein stetes Wachsen an Gattungswerten auszeichnet. Der Gebrauch der an den deutschen klassischen Idealismus angelehnten Terminologie (»Gattung«, »Gattungswerte«) erinnert an die Unumgänglichkeit, das Phänomen der Emanzipation mit dieser philosophischen Richtung permanent zu verbinden. Und dies geschieht nicht ohne inneres Recht und ohne Legitimation. Außer dem definitionsmäßig fixierten Wachsen an Gattungswerten gehört zum Begriff der Emanzipation ferner auch, daß man sich nur »zu etwas« oder »zu jemandem« emanzipieren kann, wobei der in Sicht gestellte und zu erreichende Status von Kultur, Zivilisation und Soziabilität nicht nur eine abstrakte Höhe, sondern auch eine konkrete soziale Ähnlichkeit und dadurch eine latente Gruppenzugehörigkeit beinhaltet.

In diesem Geiste soll in diesem Versuch die Heimatliteratur unter einem doppelten Aspekt untersucht werden. Auf der einen Seite wird sie als eine Literatur reflektiert, die mit einer gewaltigen zivilisatorischen Transformation der Industrialisierung und Modernisierung untrennbar verbunden ist. Auf der anderen Seite wird sie als eine Literatur untersucht, in welcher scheinbar eine Opposition zu diesem gewaltigen Prozeß formuliert ist. Dieser Versuch wird aber diese Opposition unter eine weitere Lupe stellen. Er fragt nach deren konkreter Beschaffenheit. Er will wissen, ob die Opposition gegen die Modernisierung die individualisierenden und emanzipierenden Qualitäten positiv wahrnimmt oder so, daß sie ihre Kritik an der Modernisation und Industrialisierung mit einer Kritik an Individualisation und Emanzipation verbindet.

Unsere These ist, daß dies der Fall ist und der gedankliche Tenor der Heimatliteratur gegen den emanzipativen Individualismus gerichtet ist. Es ist unsere Hoffnung, daß dieser forschende Ansatz auch die Problematik der sogenannten »linken« Heimatliteratur in sich aufnehmen und erschließen kann. Die These soll allerdings nicht spekulativ, aber auch nicht ideologiekritisch, sondern aufgrund des literarischen Materials bewiesen werden.

Faßt man zunächst die explizit gemachten Werte, die einerseits die Vertreter der Heimatliteratur und andererseits ihre Kritiker formulieren, so fällt es auf, daß diese Werte ausnahmslos in eine anti-individualisierende und anti-emanzipative Richtung weisen. Waggerl nennt »Seßhaftigkeit«, »Festhalten am Althergebrachten«, »Reinhaltung des Stammes«, »Gediegenheit des Wesens« und »Vertrauen« als die fundamentalen Eigenschaften und dies bestätigt die vorige These ganz und gar.[16] Leo Löwenthal präsentiert in seiner Hamsun-Arbeit eine ähnliche Zusammenfassung der Werte:

Industrie und Beamtentum, Naturwissenschaften und Lehrerschaft, naturalistische Schriftsteller und liberal regierte Länder, das Kaffeehaus und die Aktiengesellschaft, Großstadt und Intellektuelle, die Proletarier und die Idee von sozialer Reform oder gar Revolution - das sind die wesentlichen Sachverhalte, aus denen sich für Hamsun die moderne Welt und damit zugleich das, was sie hassenswert macht, zusammensetzt.[17]

Unter diesen Werten nimmt der der Treue eine fast zentrale Position ein. Es lassen sich freilich auch diesem Wert verschiedene Kontexte und Konnotationen zuschreiben, seine wahre Bedeutung erhält er jedoch eben durch sein nahes Verhältnis zur Problematik der Individualisation. Denn die Betonung dieses Wertes ist ohne diese Verbindung nicht nur »sinnlos«, sondern auch tautologisch. Die »Funktion« dieses Wertes erschließt sich aber vor uns, wenn die Treue wieder als eine (freiwillig) auf uns genommene Pflicht ist, uns dem Prozeß der Individualisation (und der Emanzipation) zu verweigern. Liest man etwa Weinhebers folgende Zeilen mit diesen Augen, so bekommen sie eine merkwürdige Plastizität und Tiefendimension: »Wem schwören wir? Dem starken Mann, / dem Führer schwören wir voran, / alsdann dem Blut, dem Land, dem Reich, / und keine Treu der unsern gleich«.[18]

Beinahe wörtlich dasselbe bezieht sich auch auf den Wert der Züchtigung. Die Züchtung unseres »Selbst«, aber auch die fast selbstverständliche und keiner weiteren Legitimation bedürfende Züchtung anderer enthält außer ihrer möglichen und nicht immer ganz ideologischen »positiven« Zielen wieder die klare Zielrichtung des Ausschlusses jeglichen Individuationsprozesses. Außer den vielen möglichen Beispielen sei ein Gedanke von Waggerl zitiert: »Die Voraussetzung zur Züchtung ist allerdings [...] der nordische Bauernhof und sein Erbrecht«.[19] Diese Aussage ist - sichtlich eher ungewollt als gewollt - äußerst verräterisch. Denn nicht die Züchtung wird zu einer Voraussetzung für den Bauernhof (in diesem Falle hätte es noch einen trivialen rationalen Sinn), sondern der Bauernhof wird die Voraussetzung der Züchtung. In diesem Zusammenhang wird die wahre Absicht und dadurch die Einstellung gegen Individualisierung und Emanzipation transparent.

Die die individualisierenden Prozesse vorantreibende Industrialisierung und Modernisierung erscheint als Zwang. Waggerls nächste Ausführung hat eine Schlüsselbedeutung für unsere These:

Außer dieser unmittelbaren Einwirkung eines industriellen Aufschwungs hat die Industrie in Deutschland aber auch noch eine mittelbare Vernichtung des Bauernstandes im Gebote gehabt; das trifft überall dort zu, wo durch das riesige Anschwellen einzelner Städte, weiterhin durch Bergbau und Industrieanlagen, die Bauern regelrecht gezwungen worden sind, ihre altererbte Scholle zu verlassen.[20]

Diese Schlüsselbedeutung ergibt sich daraus, daß hier der von Otto Bauer beschriebene soziale Transformationsprozeß scheinbar von Wort zu Wort wiedergegeben wird. Und dabei tritt unsere leitende Perspektive in Funktion, ob eine Reflexion auch die sich erschließenden Individualisations- und Emanzipationsprozesse mit hineinschließt oder sie nur als eine Herausforderung oder einen »Zwang« anschaut, den man mit einer expliziten Weltanschauung der Bekämpfung der Individualisation und der Emanzipation zu beantworten hat.

Das in der Heimatliteratur (wie auch in der Heimatdichtung) so verbreitete Motiv des Ahnenkults hat ebenfalls eine vielleicht unerwartete und bislang wenig beachtete Verbindung zur Problematik der Individualisation und der Emanzipation. Wer würde beispielsweise gleich die Einstellung gegen jegliche mögliche Individualisation an dem folgenden Zutat wahrnehmen: »Warum du lebtest? Um die hohen Ahnen / In deinem Blut zu feiern, um das Leben / Aus dir nach deinen Vätern aufzutragen [...]«.[21] Der Ahnenkult hat im thematischen Bereich der Heimatliteratur selbstverständlich auch viele Konkretisations- und Manifestationsformen. Generell läßt sich sagen, daß all die Formulierungen, die Ewigen Gesetze jeglicher Provenienz, dieselbe gegen Individualisation und Emanzipation gerichtete Zielrichtung aufweisen, denn diese »ewigen« Gesetze, ob man an sie glaubt oder nicht, machen zweifellos den Spielraum des Einzelnen für Individualisation und Emanzipation definitiv zunichte.

Die Problematik der Frau, der Liebe und der Familie erscheint in der Heimatliteratur ebenfalls auf eine Weise, die in einem analytischen Resultat auf die Problematik der Individualisation hinweist. Und sie tut es, indem auf eine der größten schleichenden Gefahren hingewiesen wird, auf eine mögliche, zumindest nicht mehr auszuschließende Gefahr der Individualisation der Frau. Einer der Großmeister der Heimatliteratur, Friedrich Ludwig Barthel, formuliert die folgende Idee: »Mütter sind immer die Gleichen und immer liegen die Äcker / Breithin und dulden den Pflug. Sie schlafen, so meinst du; sie nehmen / Ihre Freude in sich und geschehen [!] [...].«[22] Erblickt man hinter dieser Idee die vorhin angesprochene Angst, so erhält diese Idee fast einen gewissen Inhalt und eine gewisse Rationalität. Zu einem gewissen Inhalt kommt in diesem Zusammenhang (aber nur in ihm) Kolbenheyers folgende Strophe: »Ich bin rückständig, sehr rückständig, / Ich will, daß die Frauen Frauen sind, / Ich bin so rückständig wie die Natur, / die den Frauen einen fruchtbaren / Schoß, nährende Brüste, Instinkt / für Familie angeschaffen hat [...]«.[23] Man neigte lange dazu, in diesen und anderen Formulierungen »nur« für Ausdruck traditioneller Lebenseinstellungen zu sehen. Es ist zu hoffen, daß die Hereinnahme der Aspekte der Individualisation und der Emanzipation die Aufmerksamkeit auf das wesentlich relevantere Motiv der Angst vor der Individualisierung und der Emanzipierung der Frau lenken kann!

Selbst das nicht nur triviale, sondern auch auf mehrere Quellen zurückgehende Motiv des Führers und somit das Phänomen des Führerkults bekommt unerwartet scharfe Züge in der Beleuchtung der Problematik der Individualisation, bzw. der Emanzipation. Denn auch ohne die Aufzählung von tatsächlich unendlich vielen Beispielen über die Bedeutung der »Führung« und der »Führerpersönlichkeit« im Rahmen der Gattung »Heimatliteratur« schon lange vor Hitler muß klar werden, daß dieser Kult des Führers und gleichzeitig des unabwendbaren und erwünschten »Geführtseins« die sonnenklare Ausgrenzung jeglicher Möglichkeit der Individualisation und Emanzipation in sich enthält.

Nicht viel anders steht es aber auch mit der Problematik der Rasse, die man »ansonsten« - scheinbar problemlos - als klaren politischen Irrationalismus und psychologischen Rückfall ansehen dürfte. Im Kontext der Individualisierung und der Emanzipation, die ja als konkrete »Gefahren« am historischen Horizont der Modernisation und Industrialisierung aufscheinen, erscheinen diese Thematisierungen der »Rasse« fast »rational«, denn diese Idee richtet sich nicht nur gegen die fremde Rasse, sie richtet sich mit dem gleichen Gewicht gegen jene Mitglieder der eigenen Gruppe, die sich vielleicht durch Individualisierung und Emanzipation dieser eigenen Gruppe am Ende noch entfremden würden. Wir wollen selbstverständlich nicht leugnen, daß die Thematisierung der Rasse in der Heimatliteratur vieles von ihren späteren Instrumentalisierungen im Gedankengut des Dritten Reiches antizipiert. Trotzdem muß uns in diesem Sinne vollkommen klar werden, daß das ständige Betonen dieses Moments auch eine in mehreren Dimensionen des Wortes verstandene natürliche Barriere der Individualisation ausmacht. Die wahre Anerkennung dieser Idee verhindert nämlich wie automatisch jegliche Individualisation. Im Kontext der »Rasse« sagt etwa Burte aus, daß »ein innerster Wunsch und Trieb, so zu sein und nicht anders, daß hier Müssen und Wollen zusammenfällt«.[24] Denkt man zu diesem Satz über das Verschwindenlassen des »Wollens« ins »Müssen« den Komplex der Individualisation hinzu, so kann das Ergebnis nicht zweifelhaft sein.

Generell läßt sich feststellen, daß hinter zahlreichen konkreten Elementen der Heimatliteratur und der Heimatdichtung die Vorstellung einer im Konkreten so oder so definierten Gemeinschaft steht, deren mögliche einzelne positive Charakteristiken bei weitem nicht so relevant sind als ihre bewußte Zielrichtung gegen Individualisation und Emanzipation. Barthel beschreibt an einer Stelle die »Geburt dieser Gemeinschaft« aus dem Zustand bereits erreichter Stufen der Individualisation: »Hier [...] stieß der Arbeiter [...] mit seinem Schicksal zusammen und erkannte zum ersten Male über alle Klassen, Stände und Gegensätze hinweg die Schicksalsgemeinschaft des ganzen Volkes«. Es ist notwendig, wahrzunehmen, in welchem Ausmaß die Elemente der positiven Beschreibung dieser Inhalte ohne Ausnahme mit weitgehender Konsequenz gegen Individualisation und Emanzipation gerichtet sind. Denn der Text setzt sich wie folgt fort:

Das Blut war rauschend durch seine Adern gegangen. In dieser Minute aber verzaubert sich das Blut und wird Musik und Hymne, Lobgesang und Beschwörung. Und so steht er da, eine Blutsäule heiliger Musik [!], und ist so glühend und glücklich, daß er sterben kann. Schauer aus der Ewigkeit berühren seine Stirn [...].[25]

Denn wie ließen sich Individualisation und Emanzipation überhaupt ansprechen, wenn etwa bei Josefa Berens-Totenohl die folgende Einsicht über die »Gesetzmäßigkeiten« des Lebens ausgesprochen wird: »Unendlich in Zeit und Raum wirken die Lebensgesetze eines Volkes, bestimmt und geformt durch das gleiche Blut«.[26] Denkt man diesen Gedanken durch, so wird bald ersichtlich, daß dabei kein Raum mehr für Individualisation (und Emanzipation) übrig bleibt.

Wegen dieser sich nicht nur in den einzelnen Perspektiven, sondern auch im umfassenden Charakter manifestierenden Dominanz der Individualisations- und Emanzipationsproblematik begegnen wir einem der auffallendsten und ohne diesen Konnex unverständlichen Phänomene der Heimatliteratur und ihrer geistigen Umgebung. Es geht um die Beurteilung des Proletariers bzw. des Arbeiters im allgemeinen. Trotz jeder anders gerichteten Erwartung, erscheint die Gestalt des »normalen«, manchmal sogar auch noch des politisch von der Arbeiterbewegung bereits sozialisierten und indoktrinierten Arbeiters nicht als Feind der von der Heimatliteratur vertretenen Wertvorstellungen, obwohl dies nicht nur wegen weltanschaulichen, sondern auch wegen explizit politischen Motiven eigentlich notwendig gewesen wäre. Unsere Erklärung für dieses geheimnisvolle Phänomen hängt mit der These dieser Arbeit eng zusammen. Der Proletarier gilt nicht als Alternative für die Vision der Heimatliteratur, weil er keinen alternativen Weg in der Richtung der Individualisierung oder Emanzipierung darstellt. Das ist der Grund, warum die Gestalt des Arbeiters einfach irrelevant für die Vertreter der Heimatliteratur wird. Man geht sogar nicht selten so weit, im Arbeiter den potentiellen Verbündeten, den »kleinen Bruder« besagten Menschenbildes zu erblicken. Dies hat selbstverständlich Konsequenzen für die Heimatliteratur selbst, noch wichtiger als das wirkt jedoch die politische Dimension dieser grundsätzlichen Einstellung, die sich vor allem darin niederschlägt, daß die Präferenz der nicht-individualisierenden und nicht-emanzipativen Attitüden vor den anderen (individualisierenden und emanzipativen) sich - gegen eventuelle Erwartungen - auch in der politischen Strategie ihren deutlichen Ausdruck findet.[27] Aus dem Satz von Heinrich Lersch, »Der Vater war schon arm, du, Enkel, nichts als ein Prolet!«, kommt nicht nur eindeutig heraus, daß die Vertreter der Heimatliteratur den Arbeiter als »Familienmitglied« ansehen, sondern auch die bestimmende Tatsache, daß sie den historisch bestimmenden Prozeß der Proletarisierung des Bauerntums als umkehrbar denken und die Hoffnung nicht aufgeben, daß aus dem proletarisierten Arbeiter einmal wieder ein bewußter und effektiver Kämpfer des gemeinsamen Schicksals werden kann! In dieser Richtung weist auch eine weitere Aussage desselben Gedichts von Lersch: »Und warst du auch nur der verachtete Prolet,/ Du wußtest doch, ein neues Gesetz entsteht«.[28]

Selbst Technik kann den Autoren der Heimatliteratur negativ auffallen, wenn sie auf unerwartete Weise dem Individualisations- und Emanzipationsprozeß dienen würde. Allerdings gilt Technik als eines der wenigen Motive, die im Kontext der Heimatliteratur ein deutlich anderes Bild als später im Gedankengut des Dritten Reiches bieten. Denn im Gegensatz zu den späteren Positionen erscheint Technik im Bereich der Heimatliteratur ebenfalls als ein Instrument, mit dessen Hilfe wieder Individualisations- und Emanzipationsprozesse sich realisieren könnten. Die folgende Darstellung von Emil Strauß gilt deshalb für uns als sehr authentisch, vielleicht gerade wegen dieser Authentizität aber kann man sich einem Eindruck des Ironischen, wenn nicht gar des Komischen kaum erwehren:

Frühere Zeiten haben Geheimnisse und Geheimnisse gehabt - daß die Maschine ein Dämon ist und an der Kette liegen müßte, fällt uns nicht ein, wir lassen sie noch rasen. Das Kulturwunder, daß der Handlungsreisende mit 24 PS fährt und der Metzgerbursch auf dem Motorrad rast, bezahlen wir willig mit Verstaubung, Verstänkerung, Verärmung unserer Welt [...] der Pöbel wird maschinell mit der Menschheit ein Ende machen.[29]

Wie ein Emblem dieser Logik gegen Individualisation und Emanzipation erscheint das Schicksal der Leistung, oder etwas allgemeiner gesagt: die Problematik der Anerkennung, denn sie galt und gilt als Kriterium von im sozialen Raum vollzogener Individualisierung und Emanzipation. Wir haben eine große Anzahl von Textstellen, die diese Grundproblematik der modernen Welt ins Paradoxe umkehren. »Leistung« wird zur Selbstaufgabe, »Anerkennung« erzielt man ebenfalls durch Auslöschung seiner Individualität. Ohne diese Einsicht wird das Paradoxe auch in Johsts folgendem Satz kaum ersichtlich: »Wir sehen das Leben nicht in Arbeitszeiten zerhackt und mit Preistafeln versehen, sondern wir glauben an das Dasein als ein Ganzes. Wir wollen alle nicht mehr in erster Linie verdienen, sondern dienen«.[30] Denn das Paradoxe geht noch viel weiter. Man verlangt die Anerkennung, ohne sich individuell anerkennen zu lassen. Man will sich selbst bleiben und diese Treue zu sich selbst als »Leistung« für seine Anerkennung der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ich will mich anerkennen lassen, indem mein Ziel ein tautologisches ist. Diese Anerkennung zieht ferner den Anderen überhaupt nicht in diesen Prozeß hinein, ich will mich somit ohne den Anderen anerkennen lassen. Kein Wunder, daß aus dieser paradoxen Auffassung der Leistungs- und Anerkennungsproblematik nur latente Freund-Feind-Verhältnisse herauswachsen können.

Die tiefe Verbundenheit der Individualisation (Emanzipation) mit dem Komplex der Heimatliteratur manifestiert sich jedoch nicht allein nur in den einzelnen, immer aber konsequent gehandhabten Wertvorstellungen. Die Vertreter der Heimatliteratur bieten in den verschiedensten Zusammenhängen ihrer Werke auch noch Strategie-Optionen für die Vermeidung der Individualisation, sie greifen damit auch in die Praxis des Lesers sehr bewußt ein. Darin manifestiert sich jedoch der Charakter der politischen Tendenz in der Heimatliteratur.

Eine dieser Strategien ist das Lob des beschränkten Lebens, dessen Beschränkung eben in seinem nicht individualisierten (und nicht emanzipierten) Charakter besteht:

Mein Leben ist ja nicht besonders ruhmvoll verlaufen seither, ich habe nichts in Bücher geschrieben und selten über die letzten Dinge nachgedacht, ich weiß nur, was ich wirklich wissen muß [!]. Meinetwegen könnte die Welt hinter meinem letzten Wiesenzaun zu Ende sein. Mitunter plagen mich Sorgen, natürlich, mein Leben ist kein träges Wasser, Gott liebt es wohl, wenn seine Bäche rauschen [...]. Kein Grund, sich aufzuspielen, die Helden sind längst ausgestorben, die Roder und Landnehmer [...]. Käme jetzt wieder ein Bär durch den Graben getrottet, so würde ich mich wohl kaum nach einem Beil umsehen [...]. Aber trotzdem, es bewegt mir das Herz, über mein Land zu schauen [...].[31]

Zu diesem Phänomen liefert auch ein Klassiker der Heimatliteratur, Knut Hamsun, reichlich Material:

Das ist ein Leben, wofür du keinen Sinn hast. Du hast dein Heim in der Stadt, jawohl, und du hast es mit Nippes und Bildern und Büchern ausgestattet; aber du hast Frau und Dienstmädchen und hundert Ausgaben. Und im Wachen und im Schlafen mußt du mit den Dingen um die Wette laufen und hast niemals Frieden. Ich habe Frieden. Behalte du deine geistigen Güter und die Bücher und Kunst und Zeitungen, behalte auch deine Caféhäuser und deinen Whisky, von dem mir nur jedesmal schlecht wird. Hier durchstreife ich die Wälder, und es geht mir gut. Stellst du mir geistige Fragen und willst mich in die Enge treiben, so antworte ich nur, daß Gott der Ursprung ist und daß die Menschen wahrlich nur Pünktchen und Fasern im Universum sind. Weiter bist auch du nicht gekommen.[32]

Zu diesen Strategien, aber auch gewiß zur Lebenswelt und dadurch zu den wirklichen Erfahrungen gehört die Thematisierung der gescheiterten Individualisation, in den meisten Fällen in Form der eigenen Bekehrung, die die Gestalt des heimkehrenden Sohnes annimmt. Wir würden gerne die These aufstellen, die in dieser extremen Verallgemeinerung aus methodischen Gründen empirisch kaum adäquat zu verfizieren wäre, nämlich daß jede Heimkehr, vielleicht sogar jede Bekehrung als Signal der gescheiterten Individualisation aufgefaßt werden sollte. Bei Gerhard Schumann lesen wir folgende Verse: »Da bückte ich mich tief zur Erde nieder/ Und segnete die fruchtbare und sprach: / Verloren, dir entwurzelt, lag ich brach. / Ich komme heim, o Mutter [!], nimm mich wieder«.[33] Dieses Motiv erscheint aber auch bei Alverdes in einer sehr ähnlichen Gestaltung:

[...] küß ich, die mich trägt, die braune Furche, / und spreche grüßend also: Sieh, da bin ich, / der fortzuschnellen glühend ich begehrte, / Geschoß, von Wünschen steil ins All gejagt - /[...] doch, Springer schon auf gottgewölbten Sohlen, / begreif ich mit Entzückung eines Kindes, / daß mich auf Händen doch die Mutter wiege![34]

Eine Strategie zur Thematisierung der am tiefsten sitzenden Problematik der Individualisation wird auch in den Strategien transparent, in denen die Autoren manchmal die denkbar modernsten Bilder und Analogien für die Aufrechterhaltung der fundamentalen anti-individualisierenden und anti-emanzipativen Positionen in Anspruch nehmen. Emil Strauß beschreibt einen ganzen Prozeß als »Lebenstanz«, in welchem die »Atome« der Einzelnen bald vom Volksganzen »vereinigt«, bald wieder sich selbst überlassen werden:

[Das deutsche Volk hatte] zwar einen großen Verlust an wertvollsten Männern erlitten, aber in jedem zurückgekehrten tapferen Soldaten die Gewähr der Gegenwart und Zukunft [...], daß der Volkskern gesund war, wenn auch seine Atome jetzt nicht nach einem und demselben ordnenden Gesetze kreisten, sondern einstweilen nach den widersprechendsten Anstößen und Anziehungen durcheinanderwirbelten und -taumelten«.[35]

Strategisch ist in diesem Verfahren, daß es für jede Individualisation und Emanzipation schon im voraus die dazu gehörende Beschreibung und Erklärung parat hat - sie sind vorübergehende Phänomene, die dann vom gesunden »Volkskern« wieder aufgehoben werden.

Die vielfachen und erstaunlich erfindungsreichen Strategien gegen den Komplex der Individualisation (und selbstverständlich auch der Emanzipation) finden sich manchmal zu ernstzunehmenden intellektuellen Konstrukten, deren wirklicher Sinn erst in diesem Zusammenhang erschlossen werden kann. Ernst von Salomon schafft direkt eine geschichtliche Theorie für die deutsche Entwicklung, mit dem bereits erwähnten Inhalt: »Die Besonderheit des deutschen Schicksals - das Hineingestelltsein zwischen zwei Zeiten und zwei Ordnungen [...] konnte sich nur durch eine betonte Absage [!] an das Bürgerliche als an eine stark empfundene Verfälschung der deutschen Substanz vollziehen«[36]

Wieder eine andere und ebenso konsequente Strategie für die Beseitigung der historischen und aktuellen Bedeutung des Individuums (und auf dieser Grundlage der Individualisation und der Emanzipation) besteht darin, daß die Bedeutung von all jenen Momenten in den historischen und politischen Prozessen deutlich abgewertet wird, in denen nur eine Spur der Individualität, bzw. der Individualisation und Emanzipation aufzufinden ist. Hans Grimm schreibt es in Volk ohne Raum:

Als ob durch Lohnkämpfe und Bodenverteilungen und Sozialisierungen innerhalb des ganzen eingekesselten Volkes je mehr Menschen leben könnten. Als ob Siedelung und Sozialisierung innerhalb eines überbevölkerten Landes Nahrung und Kleidung zu vermehren imstande wären. Als ob Siedelung in Deutschland viel anderes wäre als eine Verzweiflung, eine neue Verengung.[37]

Einige Autoren gehen ja so weit, daß eine gelungen vollzogene Individualisierung der Welt ihnen als eine vorkommt, die keinen »Sinn« mehr für die Menschen hat: »Hilfe kommt letzten Endes und tiefsten Sinnes nicht aus Betteleien mit Banknoten der Hochvaluta, sondern die Hilfe kommt aus der Wiedergeburt einer Glaubensgemeinschaft«.[38]

Es kommt von Zeit zu Zeit in den Werken der Heimatliteratur aber auch dazu, daß die ständige Tendenz der Abwertung des Individuums (und der Individualisierung, bzw. der Emanzipation) in direkte Feindlichkeit umschlägt. Erwin Guido Kolbenheyer redet von einem »volksleugnenden«, »individuellen Kollektivismus« im Kontext eines internationalen Europa[39] und Ernst Bertram hielt es auch für angebracht, die folgende Stellungnahme abzugeben: »[...] das lebendige Gefühlsmißtrauen unsrer neuen Jugend gegen eine gewisse Art abendländisch-humanistischer Geistigkeit erscheint gerechtfertigt«.[40]

Ausgesprochen auffallend wirkt es, daß die Autoren aus der Szene der Heimatliteratur es sich durchaus denken können, daß ein Wertsystem, bzw. eine Ideologie der Ausgrenzung der Individualisation (und Emanzipation), von einem anderen Wertsystem und einer anderen Ideologie abgelöst werden kann, nur dieses (und diese) in der gleichen Weise die fundamentale Einstellung gegen Individualisierung in neuer Form bewahren muß. Edwin Erich Dwinger formuliert diese Einstellung wie folgt: »Eine neue Weltanschauung müssen wir schaffen, die uns in gleicher Weise [!] zum Staate führt, wie sie eine Jugend einst zum Volke führte«.[41]

Zu diesen Strategien zur Verhinderung der Annahme individualisierender und emanzipationsbedingter Attitüden gesellt sich bei zahlreichen Autoren der Heimatliteratur fast rituell ein wohl durchdachtes »System« der Warnungen. In einem Gedicht des aus mehreren Gründen berühmt gewordenen Ernst Bertram findet man Optionen und Vorschriften für die »Kinder des Eises«, damit sie sich und ihre Seelenruhe im Süden und wegen des Südens nicht verlieren. Uns scheint, daß Werke wie dieses unsere These eindeutig unter Beweis stellen können, denn das ganze Gedicht ist nichts anderes als eine einzige Warnung gegen die Gefahr der Individualisation und Emanzipation:

Süden aber ist Tod. Vergesst nicht: / Ihr seid Kinder des Eises. / Sonne tötet euch schön / Auf Klippe seidigen Meers - / Zieht hin, zieht hin! / Denn Schönheit ist beginnliche Gefahr / Und Lauerung des Tods. / Ist goldener Pfeil ins Herz: / »Es ist vollbracht - « / Zieht hin, zieht hin! / Ihr sollt nicht atmen wollen als in Fahr. / Ihr sollt nicht wandern wollen als zum Tod. / Tragt euer Eis zum Süd. / Opfert das blaue Aug, das helle Herz - / Zieht hin, zieht hin![42]

Es ist selten, kommt aber trotzdem vor, daß eine Reflexion der eigenen Existenz, namentlich die der Marginalität, im Zuge der ständigen Aktivität im Vermeiden der Individualisation und der Emanzipation in einem Werk thematisch wird. Schäfer liefert dafür ein erstaunlich realistisches Beispiel: »Gott und Ewigkeit, Himmel und Hölle, Tod und Teufel sind keine Namen für die Gebildetensprache, der besser wissen und abschätzig lächeln [!], zweifeln und spötteln mehr liegen als Einfalt und Gläubigkeit«.[43] Auch Hermann Grimm läßt manche realistischen Züge in seine Darstellung einsickern: »Sie vergaßen den billigen Saalbau mit Spiegeln, mit Zetteln, mit Fähnchen und Rauch, sie vergaßen ihre Stadt, sie vergaßen die eigene Kleinlichkeit«.[44]

Eine Schlüsselrolle für die These über die unvergleichliche Bedeutung spielt Hermann Burtes Sonett [!] An das Ich. Nicht nur der Autor gilt als einer der allerrepräsentativsten und aus diesem Grunde jeder Aufmerksamkeit der Forschung würdigen Autoren der Gattung Heimatliteratur,[45] auch die in der Heimatliteratur gewiß sehr seltene Gattung des Sonetts unterstreicht die Bedeutung dieses Werkes, welches sich - als die denkbar höchste Ausnahme - direkt mit der Problematik des Individualisation und der Emanzipation auseinandersetzt. Der Text des Sonetts ist der folgende:

Du mein geliebtes und verhasstes Ich,
Du, angebetet, abgelehnt, verstoßen,
Geschmäht von Vielen, die sich wüst erbosen,
Weil du nicht anderswo wurdest ein Strich -

Nein, bliebst, was du gewesen, wenn in Tosen
Des innern Sturms die Mittung brach und wich!
Nichts halte ich zuletzt so fest wie dich
Und möchte mir kein Anderes erlosen.

Wohl hegst du heilig lebig die Gemeinschaft
Der Menschen gleicher Art aus Blut und Boden,
Doch gilt vor Gott nur, was der Mann allein schafft,

Er muß den Urwald seines Wesens roden,
Sich selber treu, bis endlich ihn die Pein rafft.
Wie Krist am Holz und in der Esche Woden.[46]

Nun formuliert Burte diese Einstellung auf transparente Weise, so daß sein Text ganz adäquat erfaßt und interpretiert werden kann. Sein Inhalt kommt in den beiden letzten Strophen zum Ausdruck (um so paradoxer ist es, daß die ersten beiden Strophen auf Attitüden hinweisen könnten, die für den besagten Sinn der Individualisation und der Emanzipation sprechen würden). Er dreht den positiven Sinn der modernen Individualisation und Emanzipation geradezu vollkommen aus, indem er das Einzelne scheinbar ganz in demselben Sinne mit den »Anderen« gegenüberstellt, wie es die wirklichen Individualisten taten und jederzeit auch tun. Diese Konfrontation hat aber eine der wirklichen Individualisation und Emanzipation direkt entgegengesetzte Zielsetzung. Anstatt dieses Ich positiv auszubauen, stets mit neuen Inhalten und Werten zu erfüllen und es in der Richtung der Emanzipation ständig weiter zu entwickeln, definiert Burte die Aufgabe des Einzelnen gerade in der Destruktion seines »Wesens«, was wir als die eigene Kontrollierung und Ausmerzung der emanzipativen Individualisation identifizieren dürften.

Literatur

Fußnoten

[1] ALEY (1967), 46-47.
[2] In exemplarischer Form erscheint dieses Phänomen im Schicksal der einzelnen philosophischen Richtungen im Dritten Reich (s. darüber KISS, 1990 und 1982).
[3] LöWENTHAL (1990), 83.
[4] ebda.
[5] ebda., 83-84.
[6] ebda., 84.
[7] ebda. [Hervorhebung durch den Verf.; Anm.]
[8] ebda., 86.
[9] ebda., 87.
[10] ebda., 88.
[11] ebda., 97.
[12] BAUER (1907), 74.
[13] ebda., 76.
[14] ebda.
[15] In mehreren unterschiedlichen systematischen Zusammenhängen wird in Schopenhauers Hauptwerk die Problematik der Individualisation thematisiert. Selbstverständlich sind nicht alle diese Kontexte unter unserem Aspekt gleich relevant. Entscheidend ist für unseren Ansatz, daß die bei Schopenhauer notwendige weil erkenntnisgebundene Individualisierung, die er mit einem ganzen »Prinzip«, dem Principium individuationis identifiziert, mit Notwendigkeit nicht nur eine andere Einstellung, sondern auch ein anderes Bild der Welt vermittelt als ganzheitliche Ansätze. Es geht also um die existentielle Relevanz der individualisierenden Perspektive (welche Relevanz er noch nicht in soziologischer oder politischer Richtung weiter ausbaut). Die Betonung dieser existentiellen Relevanz ist der Grund für Schopenhauers bis heute unerschütterliche Bedeutung auf diesem Terrain, obwohl die konkreten Inhalte dieser Relevanz diametral dem entgegengesetzt sind, was etwa wir existentiell, soziologisch oder politisch für richtig halten würden. Ein Beispiel für Schopenhauers konkretes Verständnis dieses Prinzips: »Dem in der Erkenntnis, welche dem Satz vom Grunde folgt, in dem Principio individuationis, befangenen Blick entzieht sich die ewige Gerechtigkeit: er vermißt sie ganz, wenn er nicht etwa sie durch Fiktionen rettet. Er sieht den Bösen, nach Unthaten und Grausamkeiten aller Art, in Freuden leben und unangefochten aus der Welt gehen. Er sieht den Unterdrückten ein Leben voll Leiden bis an's Ende schleppen, ohne daß sich ein Rächer, ein Vergelter zeigte. Aber die ewige Gerechtigkeit wird nur der begreifen und fassen, der über jene am Leitfaden des Satzes vom Grunde fortschreitende und an die einzelnen Dinge gebundene Erkenntnis sich erhebt, die Ideen erkennt, das Principium individuationis durchschaut, und inne wird, daß dem Dinge an sich die Formen der Erscheinung nicht zukommen« (SCHOPENHAUER, 1881, I/418). Daß die von Schopenhauer gelieferten inhaltlichen Konkretisationen von den inhaltlichen Schwerpunkten der Heimatliteratur auch nicht ganz fern liegen, versteht sich von selbst.
[16] Karl Heinrich Waggerl, Der Bergbauer spricht. In: WEISS-HANISCH (1990),148.
[17] LöWENTHAL (1990), 123.
[18] Josef Weinheber, Die deutschen Tugenden im Kriege. in: Sämtliche Werke Bd. 4. Salzburg, 1954, 699. f. und LOEWY (1967), 153.
[19] WEISS-HANISCH (1990), 151.
[20] ebda., 150. [Hervorhebung im Original; Anm.]
[21] Hans Friedrich Blunck, Warum du lebtest? In: Blunck, Mahnsprüche. Jena, 1940, 59 und LOEWY (1967), 66. - Selbst bei diesem eindeutig anti-individualisierenden Element gilt, daß die spätere literarische Entwicklung aus heutiger Sicht mitreflektiert werden muß. In diesem Kontext drängt sich beispielsweise die Aufführung von Adam Miczkiewicz' Die Ahnen im Polen der realsozialistischen Zeit auf, die Ausgangspunkt breiter politischer Widerstandsaktivitäten geworden ist.
[22] Friedrich Ludwig Barthel, Von Männer und Müttern [!]. In: Die neue Literatur. Jg. 39. 1938, 379 und LOEWY (1967), 136.
[23] Erwin Guido Kolbenheyer, Die Brücke. In: Das Kolbenheyer-Buch. Karlsbad - Drahowitz und Leipzig, 1937, 182 und LOEWY (1967), 136. Da sind Löwenthals Bemerkungen über Hamsun für die ganze Gattung sehr repräsentativ: »Bei Hamsun ist die Frau dann erst bei ihrer eigentlichen Bestimmung und ihrem eigentlichen Glück angelangt, wenn sie die Innerlichkeit des Heims und die Naturhaftigkeit des rechten Lebens in ihrer Funktion als Hausfrau und Mutter vereinigt«. Bald darauf wird auch die Problematik der Sexualität angesprochen: »Echte individuelle Befriedigung scheint es nur in der Sphäre der Sexualität zu geben. Aber nicht, daß diese sinnliches Glück bedeutete, das in einem bestimmten Zusammenhang mit der Entfaltung der Individualität stände [...]« (LöWENTHAL, 1990, 119 - 122).
[24] Hermann Burte, Worte an Bartels. In: Sieben Reden. Straßburg, 1943, 181 ff. und LOEWY (1967), 165. [Hervorhebung durch den Verf.; Anm.]
[25] Max Barthel, Das unsterbliche Volk. Berlin, 1933,188. ff. und LOEWY (1967), 163.
[26] Josefa Berens-Totenohl, Die Frau als Schöpferin und Erhalterin des Volkstums. Jena, 1938, 7. und LOEWY (1967), 86.
[27] Dies ist freilich ein Satz, der aufgrund der Rekonstruktion von Materialien der Heimatliteratur und deren theoretischem Hintergrund formuliert werden konnte. Auf die entscheidende weitere Fragestellung der bestehenden oder nicht bestehenden individualisierenden und emanzipativen Tendenzen der proletarischen Arbeiterbewegung und ihrer Ideologie gehen wir damit nicht ein.
[28] Heinrich Lersch, Es kommt dein Tag. In: Deutschland muß leben! Jena, 1941 und LOEWY (1967), 155. - Das ist übrigens auch ein Punkt, am welchem das ausschließlich wissenssoziologische Interesse sowohl bei Leo Löwenthal wie auch bei anderen Vertretern dieser Richtung versagt, denn es kann diese zum Teil mit Sympathie gefärbte Darstellung einfach nicht kategorisieren. Kein Wunder, daß angesichts dieses Tatbestandes Löwenthal zu merkwürdigen Erklärungen Zuflucht finden muß. Ein Beispiel: »Wenn man sich des Ressentiments erinnert, mit dem das mitteleuropäische Kleinbürgertum während seiner Verelendung in der Nachkriegszeit die gewerkschaftliche und politische Organisation der Proletarier bedacht hat, dann versteht man sozialpsychologisch [!] die beifällige [!] Aufnahme der Schilderung des Proletariats bei Hamsun [...]«. (LöWENTHAL, 1990, 125)
[29] Emil Strauß, Lebenstanz. München, 1940, 125 ff. und LOEWY (1967), 126.
[30] Hanns Johst, Schlageter. München, 1933, 81 ff. und LOEWY (1967), 161.
[31] WEISS-HANISCH (1990), 146.
[32] Knut Hamsun, Die letzte Freude. Gesammelte Werke, Bd. 5, München, 291.
[33] Gerhard Schumann, Die Lieder vom Reich. München, 1943 und LOEWY (1967), 131.
[34] Paul Alverdes, Mutter. In: Wesper (1943), 244.f.
[35] Emil Strauß, Lebenstanz, a.a.O., 223.f. und LOEWY (1967), 159.
[36] Ernst von Salomon, Die Gestalt des deutschen Freikorpskämpfers. In: Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer. Berlin, 1938, 12 u. 14, und LOEWY (1967), 94.
[37] Hans Grimm, Volk ohne Raum. München, 1925, Bd. 2, 618 ff. und LOEWY (1967), 214.
[38] Hanns Johst, Vom neuen Drama. In: Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart. Leipzig, 1933, 209 ff. und LOEWY (1967), 54.
[39] Erwin Guido Kolbenheyer, Zu der Auseinandersetzung mit Romain Rolland. In: Sechs Bekenntnisse zum neuen Deutschland. Hamburg, 1933, 33 f. und LOEWY (1967), 87. - Man trifft aber oft auch die »Lösung« der Individualisations- und Emanzipationsproblematik, daß die klaren Inhalte von Individualisation und Emanzipation vom Individuum losgelöst und einem von der Perspektive dieses Denkens positiv beurteilten Kollektiv zugeschrieben werden. Dies geschieht in einem Gedicht von Paul Ernst exemplarisch: »[...] Verstehe, Volk, und fasse Gottes Plan: / Er will nicht, daß du im Gemeinen bleibst; / Mit harten Händen fasst er dich an, / Dass deinen Willen immer höher treibst« (Paul Ernst, Ungedrucktes aus dem »Kaiserbuch«. In: Die neue Literatur, Jg. 3, 1936. und LOEWY (1967), 107)
[40] Ernst Bertram, Möglichkeiten deutscher Klassik. In: Deutsche Gestalten. Leipzig, 1935, 305 ff. und LOEWY (1967), 58.
[41] Edwin Erich Dwinger, Die letzten Reiter. Jena, 1941, 178 f. und LOEWY (1967), 56.
[42] Ernst Bertram, Das Nornenbuch. Leipzig, 1925, 13. und LOEWY (1967), 92.
[43] Wilhelm Schäfer, Wider die Humanisten. München, 1943, 20. und LOEWY (1967), 59.
[44] Hermann Grimm, Volk ohne Raum. München, 1926, 283.f. und LOEWY (1967), 62.
[45] Über den Stellenwert Burtes in der Gattung der Heimatliteratur s. HARTUNG (1983).
[46] Hermann Burte, An das Ich. In: Anker am Rhein. Leipzig, 1938.



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