PALIMPSZESZT
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Gábor KEREKES
Geboren in Budapest
Das Ungarnbild in Budapest geborener Autoren der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Themenstellung

In meiner Betrachtung soll es um Autoren gehen, die in Budapest geboren sind und zur österreichischen Literatur gezählt werden, und zwar mehr oder weniger berechtigt.

Problematisch ist schon bei dieser ersten Formulierung sicherlich alles: Die Frage, was die österreichische Literatur denn ganz genau sei. Wer denn entscheide, welcher Autor hierher gezählt werden soll, kann, darf, muß. Die Frage der Geburt in Budapest ebenfalls.

Dies alles ist problematisch, denn: Die Klärung der Frage, was die österreichische Literatur darstellt und wer dazugezählt werden sollte, kann an dieser Stelle, in diesem Rahmen nicht erfolgen. Im Grunde gehe ich davon aus, daß folgende Autoren auf irgendeine Weise - von der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung bzw. Kulturpolitik -, d.h. in Form von Literaturgeschichten, Studien, Österreichbibliotheken u.ä. mit dem Anspruch vertreten worden sind, zur österreichischen Literatur zu gehören. Doch ist die Vermeidung der genauen Klärung des Begriffs der österreichischen Literatur an dieser Stelle deshalb nicht so problematisch, weil hier der Hauptakzent nicht auf der Frage liegen wird, ob die Autoren zur österreichischen Literatur gehören oder nicht, sondern daß sie alle in Budapest geboren wurden, Budapest verließen und dann in deutscher Sprache - zumindest eine Zeitlang - schrieben.

Das zweite Problem bei der Formulierung meines Titels »Geboren in Budapest« besteht darin, daß von den von mir hier betrachteten Autoren: Arthur Koestler (1905-1983), Emil Szittya (1886-1964), Erwin Guido Kolbenheyer (1878-1962), Andreas Latzko (1876-1943), Felix Salten (eig. Siegmund Salzmann, 1869-1947), Arthur Holitscher (1869-1941), Theodor Herzl (1860-1904), Max Nordau (eig. Max Simon Südfeld, 1849-1923) die letzten vier vor 1872 geboren worden sind, d.h. zu einer Zeit als Buda und Pest, noch gar nicht vereinigt waren. Das ist aber bis auf den heutigen Tage den Verfassern von Lexika entgangen, übrigens ganz gleich ob diese in Deutschland, Österreich oder anderswo im deutschsprachigen Raum angefertigt worden sind. Von dem romanischen und angelsächsischen Raum ganz zu schweigen.

Im Zusammenhang mit dem Titel dieser Veranstaltung soll es um die Frage gehen, wo diese Autoren ihre Heimat gefunden haben - wobei dies in einzelnen Fällen die vielleicht weniger spannende Frage darstellt - und wie sie als Literaten deutscher Zunge mit Ungarn, ihrer »Heimat nach dem Geburtsort, dem Taufschein« wie sie mit ihren Erinnerungen an Ungarn umgingen. War Ungarn für sie eine Last? Eine negative Erinnerung? Oder vielmehr eine nostalgisch zurückprojizierte Utopie?

Diese Themenstellung erscheint auf den ersten Blick als vielleicht nicht sehr spannend. Man kommt auch nicht umhin, zuzugeben, daß es sich bei den genannten acht Autoren um Schriftsteller eher geringerer Bedeutung handelt. Insofern ist tatsächlich erstaunlich, wie viele zweitrangige Autoren der deutschsprachigen Literatur aus Budapest stammten.

Aber zurück zur Frage der Themenstellung. Interessanter wird diese dann, wenn man sie in den Kontext der Ungarndarstellung in der österreichischen Literatur seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einbettet.

Ungarnbild in der österreichischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Grundlage der Ausführungen dieses Abschnitts ist die Betrachtung der Werke von Arthur Schnitzler (1862-1931), Karl Schönherr (1867-1943), Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), Karl Kraus (1874-1936), Rainer Maria Rilke (1875-1926), Robert Musil (1880-1942), Stefan Zweig (1881-1942), Franz Kafka (1883-1924), Hermann Broch (1886-1951), Georg Trakl (1887-1914), Franz Werfel (1890-1945), Joseph Roth (1894-1939) und Ödön von Horváth (1901-1938). Von diesen 13 Autoren dürfte der literarische Rang von 2, höchstens 3 Autoren umstritten sein, unseren Zwecken genügen sie aber alle in diesem Kontext. Klar ist natürlich, daß diese Autoren in ihrem Schaffen von der Bedeutung her weit über den Autoren stehen, die in Budapest geboren worden sind.

Betrachtet man das Schaffen dieser Autoren, so sieht man deutlich, daß es bei Kafka, Werfel, Roth und zeitweilig bei Rilke Aversionen gegenüber Ungarn gibt, die sich bei Werfel und Roth auch ganz deutlich in den Werken, d.h. in den fiktionalen Werken niederschlagen. Versucht man dahinterzukommen, wie diese Vorbehalte gestreut sind, so muß man verschiedene Gesichtspunkte untersuchen, bis man zu dem - vermutlich - richtigen Ergebnis kommt.

Versucht man sich an einer chronologischen Einteilung dieser Autoren, so wird man zu dem Ergebnis kommen müssen, daß es keine spezielle Generation bzw. keinen gesonderten Zeitraum in dieser Phase gibt, dem man bevorzugt eine besonders pro- oder aber antiungarische Haltung zuschreiben könnte. Das Ergebnis mag bei einem ersten Herantreten an diese Frage doch gewissermaßen überraschend sein, da man ja eigentlich die Nähe zu 1848 als wichtigen Faktor im Ungarnbild österreichischer Autoren vermuten würde. Doch sprechen die Tatsachen eine andere Sprache und es ist deutlich erkennbar, daß die Ereignisse von 1848/49 bei diesen Autoren keine Rolle mehr spielten. Der chronologische Gesichtspunkt erweist sich also als Sackgasse.

Wenn man andere Gesichtspunkte heranzieht, so könnte man eventuell von der Art und Weise der künstlerischen Gestaltung ausgehen und - sicherlich vereinfachend - die Autoren in »traditionelle«, d.h. mimetische, und »neuartige, experimentierende, eigenwillige« einteilen. Dabei ist selbstverständlich klar, daß einige Autoren auf Grund der Veränderungen in ihrem Schreiben in beiden Sparten angeführt werden könnten, etwa Hofmannsthal, Werfel und Roth.

Diese Einteilung verrät schon zumindest etwas - allerdings nichts, daß man nicht auch so erwartet hätte: nämlich daß eine traditionelle, das heißt eher mimetische Schreibweise, in der (möglichst viele) Partikel der Wirklichkeit vorkommen, der Darstellung Ungarns in den eigenen Werken entgegenkommt. So in den Werken Zweigs, Werfels und Roths. Allerdings ist diese Grenze nicht hermetisch geschlossen, schließlich finden sich Gegenbeispiele bei Musil und Broch.

So gibt letztlich auch dieser Vergleich keinerlei Antwort zur Lösung unseres Problems. Wir erfahren durch die obige Einteilung weder, woher die Negativität der Einstellung zu Ungarn kommt, denn Ungarndarstellungen sowohl positiver als auch negativer Art finden sich bei den eher mimetischen Autoren. (Was natürlich nicht heißt, daß Ungarn nicht angesprochen oder ungarische Figuren bei der anderen Gruppe nicht kreiert würden: siehe Broch, Musil.)

Zumindest kann man als Schlußfolgerung zusammenfassen: eine mimetische Schreibweise erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Ungarndarstellung in den eigenen fiktionalen Werken. Bei allen Autoren, die eine ausgeprägte Meinung zu Ungarn hatten und mimetisch schrieben, manifestiert sich ihre Überzeugung im fiktionalen Werk. Autoren, die eine ausgeprägte Meinung besitzen - siehe Kafka -, jedoch betont nicht mimetisch schreiben, nehmen ihre Ungarndarstellung - die ja deutlich ein Reflex der Wirklichkeit ist - nicht in ihre Werke auf.

Ein weiterer Gesichtspunkt wäre die Frage der Lebensumstände, wobei eine Kategorisierung auch hier schwerfällt, da - abgesehen von finanziellen Schwankungen im eigenen Leben - viele Komponenten vollkommen relativ sind. Joseph Roth gehörte in der Zeit seiner Emigration zeitweilig zu den Großverdienern unter den Autoren, doch schlug sich das nicht in seinen Lebensumständen nieder. Allein der Gesichtspunkt, ob ein Autor aus sozial gesicherten Verhältnissen stammte oder ob er viel Geld verdiente u.ä. sagt nicht viel aus, da zu viele Faktoren mitberücksichtigt werden müssen. Wahrscheinlich würde sich eine, auf den ersten Augenblick vielleicht naiv anmutende Einteilung anbieten, nämlich die Frage nach dem Erleben der eigenen Lebenssituation, in der versucht werden soll, dem eigenen, subjektiven Erleben der eigenen Lebenssituation gerecht zu werden.

Soweit aus einer solchen Einteilung überhaupt etwas herausgelesen werden kann, so ist es die Beobachtung, daß jene Autoren, die antiungarische Gefühle hegten, alle Probleme mit ihren Finanzen hatten oder doch zumindest ihre Lebenssituation als problematisch erlebten. Doch ist die Sache nicht so einfach, auch aufgrund dieser Einteilung ist es unmöglich, eine eindeutige Grenze zu ziehen, denn umkehren kann man die Schlußfolgerung nicht: es wäre falsch zu behaupten, daß alle Autoren, die ihre Existenz als ungesichert einschätzten, zugleich auch antiungarische Ressentiments verspürt hätten.

Auf jeden Fall würde sich an dieser Stelle zumindest die Schlußfolgerung anbieten, daß ein Zusammenhang zwischen Lebensqualität und Gefühlen zu Ungarn zu verzeichnen ist, dieser Zusammenhang jedoch nicht als grundlegend determinierend für die Einstellung zu Ungarn angesehen werden darf.

Ein weiterer Aspekt, der sich anbietet, wäre eine politisch-weltanschauliche Einteilung, die aber ebenfalls sich als äußerst kompliziert erweist, da ja die Bandbreite im Falle der zur Debatte stehenden Autoren äußerst breit ist. Zugleich wäre auch die Frage zu stellen, entlang welcher Grenzen die Einteilung erfolgen sollte: religiös versus atheistisch oder links versus rechts?

Auch in dieser Frage dürfte einer ins endlose ausufernden und zu nichts führenden Analyse eher eine - so wie im Falle der sozialen Frage - vereinfachte Einteilung vorzuziehen sein, nämlich in radikal und gemäßigt. Daß die Einteilung ebenfalls höchst fragwürdig ist, muß klar sein, denn radikal kann auch radikal-konservativ sein. Und da haben wir uns noch gar nicht der Frage der Schwankungen im Laufe des Lebens der Autoren zugewandt.

Diese Einteilung ergibt aber - bei aller Eingeschränktheit, die wir zugestehen müssen - auch kein Muster, daß einen Sinn geben, uns der Frage nach dem Ursprung der antiungarischen Gefühle näherbringen würde. Geradezu als Gegenargument zur Aufstellung einer solchen Typologie kann man auf Joseph Roth verweisen, der weder als »roter Joseph« noch als Monarchist ein gutes Haar an den Ungarn ließ. Er verabscheute sie zu jeder Zeit, was schwankte, war die politische Einstellung, jedoch nicht das Verhältnis zu Ungarn.

Als weiteren Gesichtspunkt könnte man eventuell die Frage anführen, inwieweit die Ablehnung Ungarns mit einem deutlichen Bekenntnis zu Österreich und dem Österreichischen zusammenhängen könnte. Selbstverständlich müßte auch hier vereinfacht werden, aber auch in diesem Fall ergibt sich kein klares Muster, das Bekenntnis zu Österreich involviert also nicht automatisch eine negative Einstellung zu Ungarn. Die Ablehnung Ungarns findet ihre Ursache nicht in der persönlichen Begeisterung des jeweiligen Autors für Österreich.

Eine weitere Möglichkeit wäre die - vielfach tabuisierte - Frage nach der jüdischen Abstammung der Autoren, also die Frage, ob die jüdische Herkunft der Autoren einen Rückschluß auf ihre Einstellung zu Ungarn zuläßt. (Auch an dieser Stelle sind wir uns der Problematik der Frage bewußt, denn im Grunde wäre eine noch differenziertere Unterteilung notwendig, die allerdings nicht nur den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, sondern vom Ergebnis her auch vollkommen überflüssig wäre.)

Das Ergebnis spricht eine deutliche Sprache: auch hier ergibt sich kein einheitliches Muster, und - um es damit gleich vorweg zu nehmen - eine pro- oder antiungarische Einstellung der österreichischen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann und darf nicht auf die Frage ihrer jüdischen Herkunft allein reduziert werden. Der jüdische Hintergrund spielt - wie wir noch sehen werden - eine gewisse Rolle, doch daß das nichts mit »Biologie« oder »Rasse« oder »Volkscharakter« oder »jüdische Anfälligkeit« oder ähnlich nebulösen Begriffen zu tun hat, beweist die Entwicklung z.B. Egon Erwin Kischs, der sich vom mehr als skeptischen Betrachter Ungarns in eine ganz andere Richtung entwickelte.

Bleibt als letzter Gesichtspunkt einer Einteilung nach dem geographischen Gesichtspunkt, wobei er hier im Sinne von »verwaltungstechnisch-administrativ« gebraucht wird und nicht im topographischen Sinne.

An dieser Stelle ergibt sich so etwas wie eine Antwort auf unser Problem: alle Autoren, die ungarische Vorurteile hatten, kommen aus den slawischen, d.h. nicht deutschsprachigen Teilen der Monarchie.

Betrachtet man hingegen die Autoren, die mit Wien bzw. mit dem Deutsch sprechenden Teil der Monarchie verbunden sind, so findet man eher ein höfliches Desinteresse an Ungarn, ganz gleich ob die Autoren etwas mit Ungarn zu tun hatten (Horváth, Schnitzler, Kraus, Broch, Trakl) oder nicht (Hofmannsthal, Zweig, Musil, Schönherr).

Betrachtet man die restlichen Autoren: also Rilke, Kafka, Werfel und Roth - so ist eine Antipathie vorhanden, die allerdings nicht in allen vier Fällen gleichbleibend ist. Denn denkt man an die großen Prager, dann ist Rilkes schließliche Indifferenz - er hatte sich zunächst in Briefen negativ zu Ungarn geäußert, nimmt diese Äußerungen später aber zurück, indem er, sich erneut auf die Millenniumsfeierlichkeiten beziehend, nunmehr positiv über die gleichen Dinge schreibt - gegenüber Ungarn noch zu nennen, durch die er sich von Kafka und Werfel unterscheidet. Der Unterschied ist an diesem Punkt sicherlich begründet durch das Vorhandensein einer jüdischen Abstammung oder deren Nichtvorhandensein bei Autoren deutscher Sprache in den slawischsprachigen Teilen der Monarchie.

Das ist aus dem Grunde wichtig, als die die deutsche Sprache sprechenden Juden in den nichtösterreichischen Teilen der Monarchie sich viel stärker mit der Monarchie und ihrer Einheit identifizierten als die Nichtjuden, wobei die Nichtjuden normalerweise - Ausnahmen gibt es natürlich in Prag am häufigsten, siehe Rilke - auch gar nicht deutsch sprachen und schrieben, sondern tschechisch, slowakisch, polnisch, ruthenisch etc. (So gesehen existiert keine Gruppe ernstzunehmender deutschsprachiger Autoren aus dem slawischsprachigen Teil der Monarchie, deren Verhältnis zu Ungarn man quasi als »Kontrollgruppe« mit dem der jüdischen Autoren vergleichen könnte.)

Der Grund für das negative Verhältnis der Autoren zu Ungarn in den slawischsprachigen Teilen der Monarchie, hatte unterschiedliche Gründe, wenn wir jeweils unseren Blick auf Prag und wenn wir ihn auf Galizien richten.

Die Prager deutschsprachigen Autoren waren in Prag geboren, dort aufgewachsen, haben neben ihrer deutschsprachigen und jüdischen Herkunft aber auch die slawische Atmosphäre aufgenommen und sich mit slawischen Positionen identifiziert. Dies gilt für alle Autoren, auch für Rilke. An diesem Punkt ist es noch nicht richtig, eine besondere »Sensibilität« der Autoren jüdischer Herkunft - Kafka, Werfel - als alleinigen Grund anzugeben. Auf diese Weise »lernten« die Prager Autoren in ihrer Kindheit das - auf dem Ausgleich von 1867 bzw. auf dem Ausschluß der Tschechen aus diesem Ausgleich basierende - Vorurteil gegenüber Ungarn, das seit dem Ausgleich von 1867 von den enttäuschten slawischen Teilen der Monarchie argwöhnisch beobachtet und ob seiner neuen Stellung beneidet wurde. (Dabei sollte vielleicht gesagt werden, daß im Grunde die slawische Reaktion eine ganz natürliche war, die nichts mit »slawischem Charakter« oder mit »Genetik« oder ähnlichen verschwommenen Begriffen zu tun hatte. Die Konstellation an sich - von drei Faktoren verbinden sich zwei teilweise auf Kosten des dritten - fordert automatisch die Unzufriedenheit der dritten Seite heraus. Vermutlich wären die ungarischen Reaktionen im Falle eines Ausgleichs zwischen Wien und Prag so gut wie identisch zu denen der historischen Reaktionen der Slawen gewesen.)

Eine andere Frage ist die nach der Stabilität der bestehenden Vorurteile. Diese verflüchtigten sich bei Rilke, nicht aber bei Kafka und Werfel. Hier mag der Grund darin zu suchen sein, daß Rilke nach dem Verlassen von Prag sich als freier, uneingeengter Mensch fühlen konnte, während Kafka und Werfel bis zuletzt mit dem Problem des Antisemitismus konfrontiert blieben. Aus der Sozialpsychologie ist ja hinlänglich bekannt, daß Vorurteile nicht nur einfache, pauschalisierende Negativurteile sind, die von der Umwelt übernommen werden, also nicht auf eigenen Erfahrungen beruhen, dafür - oder gerade deshalb - aber kaum wandelbar sind, sondern daß hinter der Entstehung von Vorurteilen als Ursache auch das Gefühl des Bedrohtseins, der Angst, der Unsicherheit steckt. Projiziert auf die tschechische Öffentlichkeit ist die Angst, im Rahmen der Monarchie ausgeschlossen, schlechter behandelt zu werden, die Ursache für das antiungarische Ressentiment. Auf der individuellen Ebene finden wir die Veränderung, den Abbau des Vorurteils dann nicht, wenn ein Gefühl der Bedrohung beim Individuum erhalten bleibt. Dabei muß die Bedrohung nichts mit dem Objekt des Vorurteils zu tun haben. Aus diesem Grunde scheint sich das antiungarische Vorurteil bei Kafka und Werfel erhalten zu haben. Rilke konnte das Vorurteil ablegen, da für ihn nach dem Verlassen Prags von den in seinem Falle bis dahin möglichen Bedrohtheitsgefühlen (als in Prag lebender Autor, der mit den Tschechen sympathisiert, und so gegen Ungarn fühlen muß bzw. als deutschsprachiger Einwohner Prags) sich beide in Luft auflösten.

Eine andere Möglichkeit zum Vorurteilsabbau zeigt sich im Falle des Pragers Egon Erwin Kisch, der - ebenfalls jüdischer Herkunft - während des Ersten Weltkrieges in Ungarn stationiert war, und sich dort eingehender mit dem Land beschäftigte. Das persönliche Kennenlernen als Vorurteilsabbau funktioniert aber leider nur dann, wenn die neuen Eindrücke auch intensiv sind bzw. intensiv verarbeitet werden.

Auffällig ist demgegenüber die Unveränderlichkeit der Vorurteile auch im Falle eigener Erfahrungen. Kafka und Roth hielten sich mehrmals in Ungarn auf, beide hatten ungarische Bekannte, doch sie sahen, was und wie sie es sehen wollten. Letztlich führten ihre Ungarnbesuche nur zur Verhärtung der ab ovo schon eingenommenen Position. Dies ist für die Vorurteilsforschung allerdings nichts außergewöhnliches, Roth stellt mit seinen ungarischen Bekannte wie Ödön von Horváth, Géza von Cziffra und den ungarischen Brocken, die er spricht, ein geradezu klassisches Beispiel eines vom Vorurteil gekennzeichneten Menschen dar, der im privaten Bereich »Ausnahmen« gelten läßt, diese aber nicht zur Revision seiner Urteile heranzieht, denn alles - die Bekannten und eigene Erlebnisse in Ungarn - änderten nichts an seiner Einstellung. Daß die Vorurteile auch nicht mit konkreter Tagespolitik verbunden sind, unterstreicht sehr anschaulich der bereits erwähnte Umstand, daß bei Roth der Haß auf Ungarn nach dem Ende des ersten Weltkrieges vorhanden war, weil sie monarchistisch waren, während sein Haß auf Ungarn später mit der Argumentation gestützt wird, daß sie die Monarchie gestürzt hätten.

Würde man einen Blick auf Werke und Autoren der tschechischen Literatur jener Zeit werfen, so finden sich die gleichen Einstellungen, ja selbst Motive in ihren Werken, man denke nur an Jaroslav Haseks Erzählungen und seinen Schwejk.

Ähnlich wie in Prag, aber doch ganz anders und viel verschärfter war die Lage der Juden in Galizien - wo deutschsprachige Literatur in dieser Zeit so gut wie gleichbedeutend mit Literatur von Autoren jüdischer Herkunft gleichbedeutend ist. Für das Judentum in Galizien sah die Lage so aus, daß normalerweise Erleichterungen und Schritte zur Anerkennung und Emanzipation zumeist aus Wien kamen, während man von den »Einheimischen«, d.h. der galizisch-polnischen Bevölkerung, eher antisemitische Reaktionen zu erwarten hatte. So wurde, je stärker der Antisemitismus sich ausbreitete, auch die Glorie Wiens desto stärker - und daraus resultierend desto stärker die Abneigung gegenüber den der Monarchie und Österreich gegenüber vermeintlich verräterischen Ungarn.

Auf diese Weise besaß Wien (und die Monarchie) für diese Autoren eine Glorie, die für nichtjüdische Autoren in slawischen Gebieten - siehe Rilke - bzw. für jüdische und nichtjüdische Autoren in Österreich (Zweig, Schnitzler, Hofmannsthal, Musil) auf diese grundlegende und durchdringende Weise gar nicht nachvollziehbar war. Das erklärt auch das vorhandene Desinteresse bzw. die höflichen Pauschalisierungen bei den deutschösterreichischen Autoren, egal ob sie mit Ungarn etwas zu tun hatten oder nicht.

Dementsprechend finden wir bei letzteren auch keine ausgeprägte Antipathie Ungarn gegenüber, es war ihnen entweder bekannt oder nicht bekannt, auf jeden Fall stellte Ungarn für sie kein Exotikum dar, es war ein vollkommen natürlicher und unspektakulärer Bestandteil des Alltagslebens.

Das heißt zusammenfassend: Die Ursache für die Antipathie einzelner österreichischer Schriftsteller gegenüber Ungarn findet sich m.E. nicht in künstlerischer, nicht in biologisch-genetischer Hinsicht, sondern hat mit Politik bzw. mit wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten zu tun bzw. mit aus diesen resultierenden Bewußtseinshaltungen.

Dabei werden allerdings die Unterschiede, die zwischen den Regionen und den in ihnen herrschenden Zuständen vorhanden waren, durchaus relevant. Der Unterschied in den Lebenslagen zwischen Prag und Galizien erscheint auch in der Abstufung der eigenen Urteile über Ungarn, die vom galizischen Blickwinkel, das heißt aus der schlechteren Lebenslage heraus gesehen, negativer ausfallen, ausfallen müssen. So sind z.B. für Kafka und Werfel die ungarischen Juden trotz ihres Bekenntnisses zu Ungarn - das teilweise von den Autoren auch in Frage gestellt wird - akzeptabel, jedoch Opfer der Magyaren. Für Roth hingegen sind die ungarischen Juden nicht bemitleidenswerte Opfer, sondern vielmehr Verräter: sie machen gemeinsame Sache mit dem »bösen« Ungarnvolk und sind damit schlimmer als die Ungarn selbst, wie das etwa im Radetzkymarsch deutlich dargestellt ist.

Zusammengefaßt könnte man also sagen: je schlechter die eigene Lage, desto radikaler das Urteil.

Die Übernahme der antimagyarischen Einstellung, wie wir sie bei Werfel, Kafka und Roth finden, ist also eine Übernahme der im eigenen Herkunftsgebiet verbreiten Ansichten, ist so im Grunde nicht bloß ein Lob der unmittelbaren eigenen Herkunftsgebiete und Zeichen der Vertretung dieser - obwohl dieser Aspekt auch eine Rolle spielt -, als vielmehr eine geistige »Fluchtassimilation« in das Deutsche und Österreichische hinein, das man - durch die Darstellungen der eigenen unmittelbaren slawischen Umwelt, der man sich ebenfalls »anassimiliert« hatte - durch die Ungarn gefährdet sah. Die antiungarischen Äußerungen und in fiktionalen Werken vorkommenden Darstellungen sind gekennzeichnet durch die Übernahme vorgeprägter Antipathie-Schemata, deren Herkunft - wie immer, wenn es um Vorurteile geht - eigentlich egal war: so findet sich bei Roth überraschenderweise die bei Lueger anzutreffende Argumentation von den »braven Wiener und bösen ungarischen Juden«.[1]

Sicherlich ist der wesentliche Faktor bei der Entstehung und der hochgradigen innerlichen Festsetzung der Antipathie gegenüber den Ungarn im Falle von Werfel, Kafka und Roth, daß die betreffenden Autoren sich in einer gehäuften Minderheitensituation sahen, in dieser lebten (d.h. sie waren Juden, sie waren deutschsprachig, sie lebten in der Peripherie - unverstanden durch ihre unmittelbaren nichtjüdisch-slawischen Miteinwohner - aber: auch durch Österreicher und Deutsche).

Dabei wären eine Reihe von weiteren Widersprüchen dieser gehäuften Minderheitensituation zu nennen, die teilweise allerdings auch für das deutschsprachige Österreich selbst charakteristisch waren, auf die wir aber an dieser Stelle nicht eingehen können.

Erwähnt werden soll von diesen Widersprüchen zumindest der Umstand, daß die Juden Galiziens die deutsche Literatur besser kannten als viele Menschen in den deutschsprachigen Gebieten. Die Sprache Österreichs war die Kultursprache der Region Galizien:

[...] gerade in Österreich konnte man unwidersprechlich gewahren, daß in all jenen Randgebieten, wo der Bestand der deutschen Sprache bedroht war, die Pflege der deutschen Kultur einzig und allein von Juden aufrechterhalten wurde. Der Name Goethes, Hölderlins und Schillers, Schuberts, Mozarts und Bachs war diesen Juden des Ostens nicht minder heilig als der ihrer Erzväter.[2]

(Um im Rahmen der deutschsprachigen Literatur jüdischer Autoren aus Galizien zu verbleiben, möge an dieser Stelle der Hinweis auf Leopold von Sacher-Masoch stehen, der seinen in Galizien spielenden Erzählungen mit Vorliebe Zitate aus der deutschen Literatur voranstellte, so etwa von Friedrich Schiller.[3])

Der Widerspruch zwischen der Liebe zu Österreich und Wien einerseits und dem Bekenntnis zur deutschen Literatur und Sprache andererseits, ist kein »exklusives Problem« Galiziens, sondern genauso ein Aspekt dessen, was man österreichisches Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein nennt. Jedoch besaß das Deutsche, das heißt die deutsche Sprache in Galizien, für die jüdische Bevölkerung einen Wert, der kaum zu überschätzen ist.

Wie tief das Problem geht, unterstreicht ein Blick auf den vielleicht das heißeste Österreichbekenntnis Roths beinhaltenden Roman Die Kapuzinergruft. Der Roman zeigt nämlich eine sehr deutliche Verankerung in das Hochdeutsche, Austriazismen spielen nur eine marginale Rolle, wovon man angesichts des Österreich-Bekenntnisses überrascht sein kann, wenn man nämlich erwartet hätte, daß das Bekenntnis zu Österreich in Form von für die in Österreich gesprochene Sprache charakteristischen sprachlichen Wendungen erfolgt. Im Falle Joseph Roths haben wir aber die Identifizierung von deutscher Hochsprache - als Ausdruck von Bildung und Kultur - mit Österreich - als Ausdruck von politisch-humanistischer Staatskonstruktion. Aus diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, daß die - gemessen am Roman-Ganzen - wenigen Austriazismen nur die Funktion von Lokalkolorit besitzen und nicht zur Manifestation von Roths unbestreitbar vorhandener österreichischer Gesinnung genutzt werden, denn das geschieht auf Hochdeutsch, in einem Hochdeutsch, das für Roth nicht das Synonym für Deutschland, sondern ganz allgemein für Bildung ist. Aber Roth artikuliert auch ein Problem, dessen Wurzeln in seiner Herkunft liegen: nach allen Enttäuschungen ist für Roth das Wesen der Monarchie »Die Peripherie«, d.h. die Monarchie ist in erster Linie slawisch-peripher und viel weniger deutsch oder gar ungarisch. Aus diesen Gründen scheint sich für Roth die Verbindung ergeben zu haben, daß in Die Kapuzinergruft die für ihn wichtigen, slowenischen, polnischen, galizischen u.a. Figuren ein absolut korrektes (Hoch-)Deutsch reden, während ausgesprochen als Dialekt gekennzeichnete Elemente nur im Zusammenhang mit eindeutig als Deutschösterreicher, nämlich Wiener identifizierbaren Figuren erscheinen. Das heißt vereinfacht gesagt: nur Angehörige des verräterischen Ethnikums sprechen mit dialektalen Einsprengseln, bzw. weniger brutal formuliert: die moralisch guten Figuren sprechen eine vollkommen korrekte Hochsprache. Dabei wird aber letztlich das Hochdeutsche zum Idiom der Peripherie erhoben. Und diese Peripherie ist Österreich. Zugleich wird aber das sprachlich Österreichische in ein negatives Licht gestellt.

Wiederkehrende Motive von positiven und negativen Schablonen

Da wir es bei diesem Problemkreis insgesamt mit Vorurteilen zu tun haben, mag es auch nicht weiter überraschen, daß sehr viele Stereotype anzutreffen sind, die nicht einmal von den Autoren, die sie benutzen, ausgedacht worden, sondern einfach nur übernommen worden sind.

Dabei finden sich immer wiederkehrende negative Pauschalisierungen wie: 1. Die Ungarn besitzen kein positives Gefühl für die gemeinsame übernationale Heimat, die Monarchie. 2. Sie sind die Unterdrücker mehrerer anderer Völker in der Monarchie. 3. Die ungarischen Juden geben ihre jüdische Identität auf und eifern den Ungarn in allem nach. 4. Ungarn ist als Land unkultiviert, verroht.

Für die Frage der Betrachtung der in Budapest geborenen Autoren, die dann ins Ausland gingen, sind aber auch andere Pauschalurteile, nämlich positive, relevant - diese sind, so bei den oben bereits genannten Autoren aus Österreich, folgende: 1. Ungarn sind lebenslustig, fröhlich, kennen das savoir vivre, wissen zu leben. 2. Die ungarischen Frauen sind schön, »rassig«. 3. Ungarische Männer sind Haudegen, Krieger, mutige Kämpfer und edel. 4. Das Land ist wild, abenteuerlich, aber fruchtbar - Wein und Obst, edle Pferde.

Die in Budapest geborenen Autoren

Auf Grund all jener Erkenntnisse, die oben ausgeführt worden sind, ist die Frage nach der Stellung und Einstellung der aus Budapest stammenden Autoren interessant.

Auffallend ist unter ihnen der hohe Anteil der Autoren jüdischer Herkunft: Herzl, Holitscher, Koestler, Latzko, Nordau, Salten und vermutlich Szittya, über den es wenig Dokumente gibt, über den man aber weiß, daß er das Hebräische auf einer bestimmten Stufe immerhin beherrschte.

Um die Antwort auf die Frage nach dem Ungarnbild dieser Autoren gleich vorweg zu nehmen, kann man feststellen, daß, genau wie bei den Autoren die nicht aus Ungarn kamen, bei der Frage wie sie zu Ungarn standen, die Herkunft entscheidend war, dies auch hier der Fall ist. Im Grunde finden wir bei ihnen allen keine negativen Einstellungen bzw. deren Gestaltung in literarischen Werken. Es war für sie - auf eine gewisse Weise, und je nach Person in unterschiedlichem Maße - ebenso Heimat wie es Prag für Kafka, Werfel und Rilke war.

Ein bestimmtes Muster oder Schema läßt sich im Zusammenhang mit der Gestaltung ungarischer Themen in den eigenen Werken aufgrund des - sagen wir - Ankunftsortes dieser Autoren umreißen. Dabei kann man die Lage dahingehend zusammenfassen, daß jene Autoren, die eine neue Heimat gefunden haben, in der sie sich auch zurechtfanden bzw. zurechtzufinden glaubten, sich kaum mehr mit Ungarn beschäftigten, was nicht bedeutet, daß sie Ungarn als Heimat abgestritten hätten oder daß Ungarn als Motiv nicht in ihren Werken erschienen wäre, doch waren sie durch ihre neue Heimat so in Beschlag genommen, daß Ungarn im Werk höchstens eine marginale Rolle spielte. Dabei kann die erwähnte »neue Heimat« auch ein Ideal sein, da ja Heimat sich im Kopf abspielt, d.h. im Bewußtsein existiert. Zu jenen Autoren, die ihre neue Heimat gefunden hatten, gehören mit der Heimat Österreich Felix Salten, mit der Heimat Zionismus Theodor Herzl und Max Nordau, Andreas Latzko mit der Heimat Pazifismus und schließlich mit der Heimat Nationalsozialismus Erwin Guido Kolbenheyer.

Da die Entstehung von Gefühlen und emotionalen Bindungen eine Frage der Psyche und der Entwicklung ist, könnte man im Falle von Kolbenheyer einwenden, daß er im Alter von drei Jahren aus Ungarn wegkam, d.h. außer dem elterlichen Umgang nicht viel von Ungarn gesehen haben konnte und deshalb eigentlich gar nicht aufgezählt gehörte. Andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, daß er - mit seinem letztlich erreichten künstlerisch-politischen Standpunkt offensichtlich zufrieden - keinerlei Versuch unternahm, irgendwelche »Wurzeln« o.ä. zu suchen. Bei einer Wurzellosigkeit im späteren Leben wäre ein Rückgriff auf das Ungarische nicht auszuschließen gewesen oder zumindest hätte es sich als eine Möglichkeit angeboten. Insofern ist seine Nennung vielleicht doch zu legitimieren.

Anders sieht es im Fall von Arthur Koestler und Arthur Holitscher aus, die im Sozialismus, Kommunismus bzw. der »Bewegung« eine Heimat suchten, aber letztlich keine fanden, und genauso fand sich Emil Szittya im emotionalen und bindungsmäßigen Nirgendwo wieder. Hier erfolgt zwar nicht immer eine fiktionale Darstellung Ungarns, jedoch ist eine positive Haltung zum Land nicht zu übersehen, die - wenn schon nicht fiktional -, dann zumindest in Form von Memoiren oder essayistischen Anspielungen sich äußert.

1. Gruppe - die eine Heimat fanden

Felix Salten

Wenn wir zunächst einen Blick auf jene Autoren werfen, die außerhalb Ungarns eine neue »Heimat« - im Sinne nicht nur der Geographie, sondern auch ideell - gefunden haben, so haben wir in Felix Salten ein Beispiel für die Übernahme und Gestaltung absolut österreichischer Positionen im literarischen Werk. Salten stammte aus einer jüdischen Familie und kam früh nach Österreich, so daß seine literarischen Versuche von Anfang an nur in deutscher Sprache in Angriff genommen worden sind. Er gehörte zu den heute beinahe schon legendären Freundeskreisen der Jahrhundertwende, war im Kreis von und um Schnitzler anzutreffen, wobei es aber - wenn man Schnitzler Vertrauen schenken will - immer wieder Probleme der Bekannten mit Salten gab, so wie sich auch Schnitzler über die mangelnde Aufrichtigkeit Saltens öfters beklagt hatte. Trotz allem gehörte Salten zu den unübersehbaren Repräsentanten des literarischen Lebens in Österreich, bekleidete auch den Präsidenten-Posten im österreichischen PEN-Klub. Mit Ungarn selbst hat er nicht viel zu tun gehabt, auch wenn er sich gerne von ungarischer Seite ehren ließ, was ihm aber den Spott von Karl Kraus einbrachte. 1938 emigrierte Felix Salten aus Österreich.

Insgesamt muß man feststellen: Salten findet seinen Platz in der österreichischen Heimat, deren Vergangenheit er in seinen heute - nicht zufällig - weniger bekannten Werken in den Mittelpunkt stellt, etwa in Kaiser Max, der letzte Ritter (1913), Prinz Eugen (1915) und Florian, das Pferd des Kaisers (1933), die allesamt Verbeugungen vor der fernen und nahen Vergangenheit der Habsburger, also Österreichs darstellen. Besonders deutlich wird seine Kaisertreue auch im Essay-Band Das österreichische Antlitz (1919) und darin besonders in dem gleichnamigen Essay, der von Franz Josef handelt. In Elisabeth fehlt hingegen jedweder Hinweis auf Ungarn.

Konkrete ungarische Bezüge - über neutrale Nennungen hinaus wie etwa in Prinz Eugen - sind in den Texten, die unter seinem eigenen Namen erschienen sind, nicht anzutreffen. Auf jeden Fall ist aber nichts Negatives über Ungarn zu finden.

Ähnliches gilt auch für die pornographischen Romane Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt (1906) und Josefine Mutzenbacher. Meine 365 Liebhaber. Die Fortsetzung meiner Lebensgeschichte (vermutl. nach 1930) als deren Verfasser Felix Salten vermutet wird.

Erwin Guido Kolbenheyer

Erwin Guido Kolbenheyer stammte aus einer deutschen Familie, die Ungarn im Kindesalter Kolbenheyers verließ. Er besuchte das Gymnasium in Eger, der Stadt der Ermordung Wallensteins, das in der Sekundärliteratur zu Kolbenheyer oft und gern mit Erlau (Eger) in Ungarn verwechselt wird. Darauf folgte dann der Aufenthalt in Wien, der »Stadt seines geistigen Erwachens, seiner >zweiten Geburt<«[4], wo er Philosophie studierte, einmal in gemeinsamer Prüfungsvorbereitung mit Stefan Zweig, wie das in Die Welt von Gestern nachzulesen ist. Ab 1919 ist er in Tübingen, lebt dann bei München. Als Anhänger der »nationalen Revolution« findet er seinen Platz in Nazideutschland, wo er mit seiner »Bauhüttenphilosophie« eine biologistisch-lebensphilosophische Theorie kreiert, die durchaus nicht staatsfeindlich ist. In seinen historischen Romanen um die deutsche Vergangenheit zeigt er in erster Linie große Vorbilder und Vorläufer aus der deutschen Geschichte, die als ruhmreiches Vorspiel zum 20. Jahrhundert begriffen wird. Ein ungarischer Bezug ist bei all dem nicht zu finden.

Wie weiter oben bereits angeführt, ist einerseits Kolbenheyer natürlich zu früh aus Ungarn weg, als daß sich ihn prägende Eindrücke hätten herausbilden können, doch andererseits dürfte sein Ankommen in einem Staats und Gedankensystem, mit dem er sich identifizieren konnte, jede Notwendigkeit, sich in irgendeiner Form mit Ungarn zu beschäftigen, unnötig gemacht haben. Ein Anknüpfen an einen ungarischen Strang der eigenen Familiengeschichte wäre auch deshalb nicht absolut überraschend gewesen, da ja »sein Großoheim väterlicherseits, der Honved-General Georg von Görgey« und der »früh verstorbene Vater Franz Kolbenheyer [...] Architekt des ungarischen Kultusministeriums« war.[5]

Theodor Herzl

Theodor Herzl besuchte die Grundschule in Budapest, als seine Familie nach Wien ging - ging er selbstverständlich mit. Dort folgte das Studium, während dessen Verlauf er das erste Mal Anzeichen des Antisemitismus bewußt wahrnahm. Als Journalist begegnete er in Österreich und Frankreich viel stärkeren Ausprägungen des Antisemitismus als in Ungarn. Der brutalere Antisemitismus in diesen Ländern war es, der ihn letztlich auf seinen Weg brachte und ihn zur wichtigsten Person der zionistischen Bewegung werden ließ.

Im Grunde dürften sowohl sein anfänglich lang anhaltendes Zögern gegenüber dem Antisemitismus als auch sein darauffolgendes rastloses Auftreten für die zionistische Sache in gewisser Weise mit seiner ungarischen Herkunft zusammenhängen, denn im Ungarn am Ende des 19. Jahrhunderts und zur Jahrhundertwende war der Antisemitismus zwar vorhanden, es gab auch eine Antisemitenpartei, aber daraus wurde keine Regierungspolitik. (Ganz im Gegenteil: Regierungspolitik war die Anerkennung der jüdischen Mitbürger, möglichst ihre Magyarisierung. Sicherlich war die aggressive Magyarisierungspolitik für Betroffene, die gezwungen waren, ihre Namen in ungarische Namen zu verändern, eine Tragödie. Doch zugleich ist nicht zu übersehen, daß es hier nicht um Ausgrenzung, Vertreibung oder gar Vernichtung ging.)

Man liest vielerorts über den ungarischen Antisemitismus der Jahrhundertwende, doch bei genauerer Betrachtung verschiebt sich das Bild doch etwas. Traditionell wird der Ritualmordprozeß von Tisza-Eszlár (1882) als ein besonderer Beweis des ungarischen Antisemitismus angeführt. Bei weiterer Überlegung sollte man aber nicht vergessen, daß mit Károly Eötvös einer der angesehensten ungarischen, nichtjüdischen Anwälte die Beschuldigten verteidigte und daß dieser Prozeß, der vor einem ungarischen Gericht geführt wurde, des ungarischen Königs Abbild an der Wand, mit einem Urteil im Namen des Königs die Angeklagten von allen Beschuldigungen vollkommen freisprach. Hiermit soll das Empörende und Abstoßende der Tatsache, daß Vorurteile und Bereitschaft existierten, unschuldigen Menschen auf Grund falscher Beschuldigungen den Prozeß zu machen, nicht bagatellisiert, sondern nur gesagt werden, daß der ungarische Staat und das ungarische Gericht nicht dem Druck der Antisemiten nachgab, sondern auf die vollkommene Abstrusität der Vorwürfe verwies. Daß dies in Europa keine Normalität war, beweisen sowohl das Urteil in der Dreyfuß-Affäre als auch jenes Urteil von Polna im heutigen Tschechien, in dem im Jahre 1899 die Ritualmord-Anklage in allen Belangen als berechtigt akzeptiert worden war. Das heißt, das Schwurgericht sah es als erwiesen an, daß der ewige Jude erschienen wäre, um mit dem Juden Leopold Hilsner das Christenmädchen Aneka Hrzova rituell zu ermorden![6]

Dieser atmosphärische Unterschied - nämlich zwischen Ungarn und z.B. Tschechien, aber auch Österreich - dürfte auch in der Entwicklung Herzls eine Rolle gespielt haben. Nämlich dabei, daß er zunächst lange Zeit kaum auf den Antisemitismus reagierte; dann aber, als er dessen Ausmaße wirklich erkannte, reagierte er um so heftiger und brachte schließlich das Konzept des Judenstaates zu Papier - das als Ideal vor ihm schon existierte, allerdings nicht derart sorgfältig durchgeplant, wie er das nun getan hatte.

Beides - das Zögern zuerst, dann die Entschlossenheit - ist ohne den ungarischen Hintergrund schwieriger zu erklären.

In seinen literarischen Werken gibt es keine Ungarndarstellung, seine Briefe und Tagebücher bieten zwar viele Beispiele, allerdings ohne daß irgendeine Art von Apologie auf Ungarn angewandt worden wäre. Chronologisch betrachtet findet sich zunächst ein für uns heute wohl kaum möglicher, weil lockerer Umgang mit dem Aspekt des Jüdischen, etwa auf jener Karte an seine Eltern aus Ostende, auf der steht: »Viele Wiener und Budapester Juden am Strand. Andere Urlauber sehr nett.«[7] Dem folgt dann die literarische Produktion, wobei bei ihm keine Beschäftigung mehr mit Ungarn oder irgendeine Form der Ungarndarstellung zu finden ist.

Ungarische Kontakte blieben für Herzl selbstverständlich, hatte er doch keine Ressentiments gegenüber Ungarn und auch noch ungarische Verwandte. Das Ungarische machte er sich naturgemäß zu Nutze, z.B. als er sich brieflich an den berühmten Orientreisenden Armin Vámbéry wandte, der jüdisch-ungarischer Herkunft war - sich aber zum Zeitpunkt, als Herzl mit ihm den Kontakt aufnahm, nicht mehr als solcher definierte - und auf eine Weise schrieb, die ausgezeichnet das Mischmasch, oder sagen wir: die doppelte bis dreifache Identität zeigt, mit der wir es hier zu tun haben. Als Vámbéry sich in Konstantinopel für die Sache Herzls einsetzte, zunächst aber noch keine Ergebnisse erzielt hatte, sprach ihm Herzl auf folgende Weise brieflich zu: »My dear Vámbéry bácsy! We can do really everything, but we must be willling! Wollen Sie, Vámbéry bácsi!«[8]

Max Nordau

Ist der älteste der zu dieser Gruppe gezählten Autoren und steht als zionistischer Vorkämpfer und Bekannter Herzls dessen Lebensweg nahe, in gewissem Sinne auch in dessen Schatten. In seinem literarischen Werk findet sich eine in Ungarn angesiedelte Novelle mit dem Titel Panna - die ungarische Koseform für »Anna« -, doch besitzt das Ungarische in diesem Werk auch nichts anderes als die Funktion des Hintergrundes, der Kulisse.

Andreas Latzko

Andreas Latzko war ebenfalls jüdischer Herkunft, wurde römisch-katholisch getauft. Seine Mutter stammte aus Wien. Latzko besuchte die Schule in Budapest, die Mittelschule ebenfalls hier und in Stuttgart, und das Studium der Technik bzw. der Philosophie absolvierte er ebenfalls in Budapest und in Deutschland, nämlich in Berlin.

Latzko schrieb zunächst auf Ungarisch, einige seiner Theaterstücke wurden an ungarischen Bühnen aufgeführt, doch ab 1901, als er nach Berlin ging, schreibt er auf Deutsch.

Latzko war als Autor von Antikriegsliteratur bekannt ge- und als solcher dann auch vergessen worden.

In seinen literarischen Texten gibt es kaum Ungarisches, wenn, dann spielt aber in der Handlung nichts spezifisch Ungarisches eine wesentliche oder entscheidende Rolle. Das heißt letztlich findet sich keine besondere Aussage über Ungarn in seinen literarischen Werken. Er nahm Ungarn als Kulisse, sozusagen als »Tribut«, als Verneigung vor der Heimat. Beispiele hierfür sind z.B. die Erzählungen Heimkehr - eine Heimkehrergeschichte nach dem Ersten Weltkrieg, wie etwa bei Böll später - und Heldentod. In letzterer Erzählung wird der unsinnige Tod eines Soldaten beschrieben, der hier eben ein Ungar ist. Dabei kommt der Herkunft keine Bedeutung zu, im Mittelpunkt steht die Darstellung des Leidens, das gerade ein Soldat, im konkreten Fall ein Ungar, durchmacht. (Trotzdem finden sich einige Merkwürdigkeiten bzw. Inkonsequenzen bei Latzko: in Heimkehr benutzt er z.B. konsequent ungarische Formen der Namen wie Kovács, Mihály - nicht Michael -, Tóth, »Marcsa«, die Hauptgestalt nennt er aber Johann Bogdán statt János Bogdán. Dies zeigt auch die sekundäre Rolle des Ungarischen bei ihm.)

Latzkos Verhältnis zu Ungarn ist schwer zu rekonstruieren. Verfolgt man dies mit Hilfe von Stefan Zweig, dem er am 8. Januar 1918 begegnete[9], dann spielt Latzkos ungarischer Hintergrund zunächst gar keine Rolle, ebenso wie in der summarischen Zusammenfassung in Zweigs Tagebuch »Monat Februar 1918«[10] wie auch in Die Welt von Gestern.[11] Allerdings gab es doch eine Veränderung, denn während er am 23. März 1919 zur Unterzeichnung eines internationalen Dokumentes Intellektueller »von den Ungarn Latzko« vorschlägt[12], nennt er am 23. Oktober 1925 in einer Aufzählung »von deutscher Seite« unter anderem Latzko.[13] Inwieweit diese Einordnungen auf Latzko zurückgingen, ist nicht klar.

Zusammenfassung

Bei diesen vier Autoren ist insgesamt typisch, daß sich keine Ungarndarstellung, keine Kommentare zu Ungarn finden lassen. Sie alle fanden eine neue Heimat, und diese (d.h. deren Vergangenheit - Kolbenheyer -, deren Gegenwart bzw. Vergangenheit - Salten - bzw. deren Zukunft - Herzl, Nordau, Latzko) stellten sie in ihren Werken dar. Das Interesse war kanalisiert, aber nicht in Richtung auf Ungarn.

2. Gruppe - die Heimatlosen und ihre ungarische Heimat

Im Grunde ist die angeführte Zweiteilung »leider« nicht so sauber vollziehbar, wie es hier geschieht, da es sich ja um Menschen und deren Entwicklung und nicht um chemische Elemente handelt. Problematisch ist die Gruppe der »Heimatlosen« insofern, als es für sie natürlich auch eine Phase gab, in der sie eine Heimat gefunden zu haben schienen. In diesem Zeitraum galt für ihre Einstellung, ihr Verhältnis zu Ungarn und auch für ihre Ungarndarstellung letztlich das gleiche wie für die »Heimatfinder«. Doch wäre es in diesem Rahmen sicherlich übertrieben gewesen, die Lebenswege und schriftstellerischen Produktionen dieser Autoren auch noch in Unterphasen einzuteilen...

Arthur Holitscher

Arthur Holitscher stammt aus einer bürgerlichen Familie, besuchte die Schule in Budapest, die er später als äußerst stupide beschreibt, ähnlich den Passagen in Zweigs Die Welt von Gestern, in denen es um Zweigs Schuljahre geht.

Holitscher arbeitet zunächst in Budapest, ab 1907 in Berlin. Den großen Durchbruch schafft er mit dem Amerikabuch im Jahre 1912. Amerika heute und morgen soll auch von Kafka benutzt worden sein bei der Arbeit an Amerika. Wichtige Stationen auf Holitschers Lebensweg waren noch seine Annäherung an radikalpazifistische und sozialistische Positionen. 1919 gründet er mit Piscator das Proletarische Theater, zeigt auch ansonsten Interesse für die sozialistisch-kommunistische Sache, wird aber trotz Sympathie und trotz - oder gerade wegen? - Aufenthalten in Moskau nie Mitglied irgendeiner KP.

1933 werden seine Bücher in Deutschland verbrannt, so flieht er über Wien, Budapest und Paris nach Genf, wo er vergessen 1941 stirbt.

Im Kontext der österreichischen Literatur ist noch erwähnenswert, daß er von 1897 an einige Jahre lang Korrespondenzpartner von Rilke war und daß seine Lebenserinnerungen das Interesse Kafkas weckten, der in seiner Korrespondenz mit dem aus Ungarn stammenden Robert Klopstock in seinem Brief vom März 1924 aus Berlin an diesen über Arthur Holitscher schreibt:

Viel habe ich an Sie gedacht beim Lesen von Holitschers Lebenserinnerungen, sie erscheinen in der »Rundschau«, die zweite und dritte Fortsetzung habe ich gelesen. Zwar ist zwischen Ihnen und ihm gar keine unmittelbare Beziehung festzustellen, als eben Ungarn und das uns allen gemeinsame Judentum, aber ich halte mich gern an Örtlichkeiten fest und glaube aus ihnen mehr zu erkennen als sie zeigen. Übrigens hat H. seiner Meinung nach gar kein Ungartum in sich, er ist nur Deutscher, von solchen Budapestern haben Sie mir kaum erzählt. [...] Mitbeschämend für ihn und den Leser die besondere Art der Judenklage. So wie wenn man in einer Gesellschaft stundenlang die Elemente eines gewissen Leids erörtert und weiterhin ihre Unheilbarkeit unter allgemeiner Zustimmung festgestellt hätte und nachdem alles fertig ist, fängt einer aus der Ecke über eben dieses Leid jämmerlich zu klagen an. Und doch schön, aufrichtig bis zu grotesker Jammerhaftigkeit. Trotzdem, man fühlt: es ginge noch weiter.[14]

In seinen Büchern erwähnt Holitscher Ungarn immer wieder, wobei die Tendenz schwankend ist: in Weiße Liebe (1896) erwähnt er den ungarischen Dichter Petõfi - er läßt eine deutsche Figur des Romans sagen: »Auch Götter stiegen vom Olymp hernieder und kämpften auf der Zinne der Partei! Camille Desmoulins, [...] Petöfi, dann unser großer Herwegh! Freiligrath!«[15]

Damit ist eine - wenn auch nur kleine - positive Nennung Ungarns vorhanden.

Im erfolgreichen Amerikabuch, das im Grunde eine Reisebeschreibung ist, schreibt Holitscher im Kapitel Esterhazy in Sasketchewan über Nachkommen ungarischer Auswanderer, die in Sasketchewan leben. Dabei beschreibt er sie - in Bildern des positiven Ungarnklischees - als trinkfreudige und lebenslustige Typen:

Der Magyare steht da, die eine Hand hat er in tränenreicher alkoholischer Heiterkeit hinter sein linkes Ohr gepreßt, in der Rechten über seinen Kopf erhoben hält er den Cocktail in die Höhe und singt dazu:

»Ha bemegyek, ha bemegyek
Esterházy - Bar-ba,
Rászólok a, rászólok a
Czigányra!
Huzd rá czigány« usw.
Dabei hat er seinen Lebtag keinen Zigeuner gesehen, er ist schon in Pennsylvanien als Sohn eines Kohlenbergmanns zur Welt gekommen, steht jetzt hier, in der Bar des Hotels in Esterhazy, Provinz Sasketchewan, und spricht sogar in der absoluten Betrunkenheit das reinste Ungarisch, das man sich denken kann.[16]

Der Authentizität halber erwähnt er noch die Schimpfwort-Wendung »basszama teremtette«, die der irische Wirt schon von den Nachkommen der Ungarn erlernt hat, aber nur undeutlich ausspricht. Die Ungarn seien gute Farmer, gesetzestreu und als hervorstechende Eigenschaften liebten sie besonders das Kartenspiel und die Juristerei (»Die Ungarn lieben es [...]«). Auch über den ungarischen Klerus hat er Gutes zu vermelden: »Die ungarische Geistlichkeit zeichnet sich durch liberale Anschauung aus, und diese stimmt mit der politischen Richtung der Gemeinde überein.«[17]

In dieser Zeit scheint sich Holitscher nicht als Jude definiert zu haben, denn er schreibt - als Gegenbild zu diesen lustigen und freien Ungarn in der Neuen Welt - über den ungarischen Bauern, der »daheim in der Quetschmühle zwischen dem Pfaffen, dem Erbadel, dem Juden und den [...] Regierungen seinen blutigen Schweiß verspritzt«.[18]

1924 erscheinen Holitschers Memoiren unter dem Titel Lebensgeschichte eines Rebellen, der auch gleich verrät, wie er gesehen werden möchte. Hierin finden sich Erinnerungen an seine Schulzeit am Deákplatz im Evangelischen Gymnasium, das er nicht gemocht zu haben schien (»Die Lehrerschaft hatte zwischen den Tendenzen des Westlertums und den beginnenden national-magyarischen vorsichtig hindurch zu lavieren.«[19]), er erinnert sich an Budapester Originale wie den Buchhändler Rossitscheck und schildert seine Situation, die Situation der Juden in Ungarn als kompliziert:

Ja, man lebte unter einem magyarischen Volk und fühlte und sprach deutsch. Besser gesagt: man sprach deutsch und fühlte nichtmagyarisch. Außerdem lebte man ja, ob man wollte oder nicht, im »Galuth«, dem Exil, und das Wirtsvolk gab es einem zu verstehen, daß man geduldet, und zwar mit ungeduldiger, zuweilen versagender Nachsicht geduldet war.[20]

Der große Schock kam für ihn durch die Ereignisse von Tisza-Eszlár. Der Prozeß sowie die Magyarisierungspolitik der ungarischen Regierung, die die Magyarisierung der Juden anstrebte, indem sie versuchte, sie die deutsche Sprache aufgeben zu lassen und sie zwang, ungarische Namen aufzunehmen, verdichtet sich in den Erinnerungen zu einer düsteren Atmosphäre. Holitscher gibt eine Art Beschreibung der ungarischen Gesellschaft, die - und das ist charakteristisch für Holitscher - schwer einzuordnen ist, da so gut wie alles schlecht zu sein scheint; einzig eine gewisse Sympathie mit dem Sozialismus ist herauszuhören:

Eine Parole war: Tisza-Eszlár; die andere hieß: Wien. Nach Eszlár richtete sich die halbruinierte ungarische Gentry, der kleine Landadel mit seinem verschuldeten Landbesitz, seinen noblen Passionen, das Juristenvolk der Provinz, sofern es nicht mit der Regierung des Landes, der Komitate in Verstrickung geraten war. Nach Wien richteten sich die »Mamelucken«, das heißt eben der Teil des ungarischen Landadels, der zur Beamtenschaft gehörte und aus Wien seine Direktiven erhielt, wie auch die demokratisch westlich getünchten Liberalen in der Judenschaft, im Grundwesen konservativ, kapitalistisch, stärkste Stütze der Politik der Habsburger in Ungarn. Zwischen diesen beiden Richtungen schwebte, lavierte eine neue Schicht assimilationslüsterner Juden der jüngeren Generation, [...]. Über den Parteien befand sich der Hochadel, gänzlich mit dem Wiener Hof verbunden, Aristokraten, die sich für England viel intensiver interessierten als für das Land, aus dem sie ihre Renten bezogen. Und unten regte sich, vorerst noch kaum merkbar, aber schon einigen vernehmlich, die entrechtete, geknechtete Arbeiterschaft, das Proletariat des Agrarlandes, das Industrieproletariat der Hauptstadt, aus dem ein Menschenalter später [...] die Diktatur erstehen sollte![21]

Für die reichen Familien, den »Patrizierfamilien« unter den ungarischen Juden, galt seiner Ansicht nach:

[...] sonst war man in Dingen des Deutschtums vollständig von Wien beeinflußt; man wußte von Deutschland nur, was man in Wiener Zeitungen las, und kannte von Deutschland nur München, weil es auf dem Wege nach Paris lag. Pest war ein Ableger, eine Vorstadt von Wien, wie Wien, sofern es nicht seine reine, eigenwüchsige Kultur besaß, als eine Vorstadt von Paris angesprochen werden konnte.[22]

Die Ambiguität, das Verstecken der eigenen Sicht bleibt auch später noch Holitschers Eigenheit. In dem eindeutig als Roman, also als fiktionales Werk ausgewiesenen Buch Es geschah in Moskau, das 1929 als zweiter Roman der nicht fertiggestellten Trilogie über die zwanziger Jahre erschien, heißt der Ich-Erzähler »Arthur Holitscher«, wobei dieser Ich-Erzähler streckenweise zum auktorialen Erzähler wird, denn beim größten Teil der Handlung ist er selbst nicht gegenwärtig, ja noch nicht einmal in Moskau. Die Begeisterung für den Sozialismus und für Moskau ist gar nicht so eindeutig im Werk enthalten, was auch in Verbindung mit einer Figur aus Ungarn zum Ausdruck kommt. Die folgende Passage ist sehr unterschiedlich deutbar. Es wird über den Selbstmord eines Ungarn in Moskau erzählt. Der Ungar war vielleicht ein Schwächling, der nicht an die Sowjetmacht glaubte, sich - sozusagen im »Endspurt« - umbrachte, und somit auch entbehrlich ist - wäre die eine Lesart. Aufgefaßt werde könnte die Beschreibung aber auch ganz entgegengesetzt, nämlich als Beispiel eines Opfers der rigorosen und unmenschlichen Sowjetmacht, die nicht mehr die reine Lehre verwirklicht, was der Selbstmörder ja einschätzen konnte, da er selbst zur Bewegung gehörte. Sein Selbstmord kann also durchaus auch als heroisch-verzweifelte Tat gesehen werden, als der letzte Ausweg, sich der Situation in Moskau auf eine Weise zu entziehen, ohne jemand anderem Schaden zuzufügen:

Also ich komme gerade an, wie der Genosse Feneki auf russisch seinen Vortrag vor den Ungarn beendet. [...] Er hat den Ungarn das, wovon jetzt zu reden ist [...] in einer leichten, angenehmen Weise beigebracht. [...] diesen Menschen, bei denen, ich weiß nicht warum, alles wund ist vor Heimweh und Anstrengung und Entbehrung und allem. Aber es ist zur Diskussion gar nicht gekommen, denn wie Genosse Feneki seine Ausführungen schloß, hörte man aus der Tiefe des Saales [...] ein einziges Wort geschluchzt und darauf ein Geräusch, wie wenn ein Kartoffelsack auf die Erde plumpst. Das Wort habe ich nicht verstanden, nachher hat man mir gesagt, es wäre ein ungarisches Wort, das: »Genug!« bedeutet. Der Mensch aber, der hingefallen war [...], war ein Emigrant, ein ehemaliger Schullehrer, der ausgetauscht war und nach zwei Jahren Gefängnis hierhergekommen war, in das heilige Land, in dem er in einer Seifenfabrik gearbeitet hat. Er hat den Vortrag des Genossen Feneki ruhig angehört und hat sich darauf mit seinem Taschenmesser einen äußerst kunstfertigen Stich ins Herz beigebracht. »Genug!« Und im nächsten Augenblick schon erlöst. [23]

Arthur Koestler

Arthur Koestlers Mutter stammte aus Prag, brachte von dort die bekannten Vorurteile mit. (»Obwohl sie beinahe ein halbes Jahrhundert in Budapest wohnte, hat sie nie aufgehört, die Magyaren als Barbaren zu betrachten; auch hat sie sich nie bemüht, wirklich ungarisch zu lernen.«[24]) Koestler geht in Budapest zur Schule, spricht ungarisch, schreibt deutsch, später dann englisch. 1919 geht er nach Wien, nach langem unsteten Leben läßt er sich schließlich in London nieder. Typisch für ihn ist die Sympathie mit der linken, kommunistischen Bewegung. Von ihr enttäuscht, wird er zu einem ihrer schärfsten Kritiker, wovon sein Roman-Welterfolg Darkness at Noon (Sötétség Délben - Sonnenfinsternis) zeugt.

In seinen fiktionalen Werken findet sich keine Gestaltung Ungarns, umso mehr aber in seinen Memoiren. Dabei erinnert er sich nicht nur an die Zeit in Budapest, an die Schule, sondern in Als Zeuge der Zeit zitiert er auf deutsch übersetzt die Zeilen der ungarischen Nationalhymne sowie des ungarischen Textes der Internationale[25] und in Invisible writing übersetzt er ungarische Lyrik ins Englische, nämlich Attila József. Überhaupt erinnert er sich in seinen Memoiren mit Sympathie an Ungarn und das Ungarische.

Über Ungarns Geschichte im 20. Jahrhundert sinnierend schreibt er im Zusammenhang mit der Machtergreifung der ungarischen Kommune von 1919 über die

Blindheit und die phantasielosen Fehlgriffe der westlichen Demokratien, die ihren liberalen Verbündeten den Rücken kehrten und unwissentlich zu Geburtshelfern jener Macht wurden, die sich ihre Vernichtung zum Ziel gesetzt hatte. Die ungarische Kommune von 1919 ist ein unmittelbares Resultat der Politik des Westens gewesen - das erste Beispiel für einen Vorgang, der sich im nächsten Vierteljahrhundert noch oft wiederholen sollte.[26]

Die Beschreibung der Stadt Budapest, die der Maifeier von 1919, die ihn als Kind tief beeindruckte, zeugen genau so wie die Beschreibung der Cafés, der Witze, aber auch der Arbeiter der Vorstadt von einer nostalgischen Sehnsucht an die Kindheit, die für ihn mit Budapest verbunden war.

Kurz erwähnen sollte man vielleicht die - kuriose - gemeinsame Arbeit mit Andor Németh, als deren Ergebnis einige Kriminalgeschichten entstanden. Bemerkenswert dabei war die Arbeitsweise, denn Koestler arbeitete seine Variante zunächst auf Deutsch, Németh auf Ungarisch aus, dann ergänzten sie tagelang beide Varianten jeweils um die Einfälle des anderen.[27]

Emil Szittya

Emil Szittya ist sicherlich die schillerndste Figur unter diesen Autoren. 1886 in Budapest als Adolf Schenk geboren, danach halb Europa bewandert und überall zur Bohéme gehörend, schließlich in Paris niedergelassen, wo er 1964 starb. Er behielt den angenommenen Namen Szittya (= Skythe, im Sinne von »Erzungar«) demonstrativ bis zum Ende seines Lebens bei, und dies auch als er schon lange nicht mehr ungarisch schrieb und selbst in Zeiten der größten Enttäuschung über Ungarn. Seine Frau wußte nicht einmal den wirklichen Namen ihres Mannes, erfuhr ihn erst nach dessen Tod aus den hinterlassenen Papieren. Dabei gab es - außer emotionalen Argumenten - keinen Grund, diesen Namen beizubehalten, denn er war ja nicht so berühmt geworden, als daß er unbedingt diesen Namen als »Markenzeichen« hätte beibehalten müssen.

Bei Szittya findet sich zwar keine fiktionale Gestaltung Ungarns, jedoch gibt es immer wieder Verweise auf Ungarn und ungarische Beispiele in seinen Essays und Schriften wie etwa in Das Kuriositäten-Kabinett (1923), Selbstmörder (1925) und Malerschicksale (1925), aus denen man eine gewisse Sympathie und Anerkennung für Ungarn herauslesen kann.

Fazit

Die Beispiele der in Budapest geborenen österreichischen Autoren der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert zeigen deutlich, daß jene Autoren, die keine neue Heimat gefunden hatten, sich intensiver auf Ungarn bezogen, gerne am Rande ungarische Figuren oder Ungarn als Kulisse in ihre Werke einführten, als jene Autoren, die eine neue Heimat, ein neues Zuhause fanden. Dabei schwankt bei allen - möglichen - bösen Erinnerungen die Darstellung Ungarns - sofern sie erfolgt -, meist zwischen neutral oder positiv in der Bewertung des Landes.

Verglichen mit den anderen österreichischen Autoren fällt als identisch auf: der Schauplatz der Kindheit ist nicht negierbar oder zumindest nicht als negativ erlebbar.

Verglichen mit jenen österreichischen Autoren, die ein negatives Ungarnbild besaßen, läßt sich die auf Grund der ungarischen Autoren gezogene Schlußfolgerung auch auf Werfel und Roth beziehen: das starke Festhalten an und Darstellen von slawischen Elementen und Gedankengängen deutet darauf hin, daß sie sich woanders eben doch nicht vollkommen eingelebt haben.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die bereits scherzhaft gemachte Bemerkung im Zusammenhang mit den aus Budapest stammenden österreichischen Autoren zurückkommen: Insofern ist tatsächlich erstaunlich, wie viele zweitrangige Autoren der deutschsprachigen Literatur aus Budapest stammten...

Meines Erachtens haben wir es hier mit keinem Zufall zu tun, sondern es geht im Grunde darum, daß diese Autoren relativ spät zur Literatur in der Sprache Deutsch gefunden haben bzw. zu dieser Zeit noch mehrsprachig waren - und dies erwies sich als unüberwindbares Handicap, und zwar als Handicap, als Rückstand gegenüber den Autoren, die von Anfang an in deutscher Sprache in Österreich oder in Deutschland oder wo auch immer schrieben oder auch als Nachteil gegenüber jenen, die eben auf Ungarisch in Ungarn schrieben, denn - soweit übergreifende Vergleiche zwischen verschiedensprachigen Literaturen überhaupt legitim sind - man muß feststellen, daß die »Budapester« Österreicher auch hinter der modernen ungarischen Literatur jener Zeit zurückbleiben. Das Fehlen der großen Talente in deutscher Sprache aus dem Raume Ungarn ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, daß das Ungarische, die ungarische Kultur jener Zeit allen offen stand, auch Autoren jüdischer Herkunft, von denen eine nicht unbedeutende Zahl zu den wichtigsten, schöpferischsten, bestimmendsten Autoren der ungarischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört. Sie mußten nicht auf das Deutsche ausweichen - wie im Falle von Autoren andernorts.

Fußnoten

[1] Pauley, Bruce F.: Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Wien 1993, (im weiteren: PAULEY) S. 78.
[2] Zweig, Stefan: Europäisches Erbe. Frankfurt am Main 1960, S.253f.
[3] Sacher-Masoch, Leopold von: Das Volksgericht. In: Sacher-Masoch, Leopold von: Mondnacht. Berlin 1991, S.217.
[4] Kolbenheyer, Erwin Guido: Kindergeschichten. Wien 1964, S.6.
[5] Ebenda S.5.
[6] Kende Tamás: Vérvád. Budapest 1995, S.89-98.
[7] PAULEY S.92.
[8] Bein, Alex: Theodor Herzl. Biographie. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, S.239
[9] Zweig, Stefan: Tagebücher. Frankfurt am Main 1988, S.302.
[10] Ebenda S.306.
[11] Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Frankfurt am Main 1980, S.200.
[12] Romain Rolland - Stefan Zweig: Briefwechsel 1910-1940. Berlin 1987, Band. I. S.442.
[13] Ebenda Bd. II. S.130.
[14] Kafka, Franz: Briefe 1902-1924. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt am Main 1958, S.478f.
[15] Holitscher, Arthur: Weiße Liebe. München 1896, S.38.
[16] Holitscher, Arthur: Amerika. Heute und Morgen. Berlin 1912, S.168.
[17] Ebenda 173.
[18] Ebenda 170.
[19] Holitscher, Arthur: Lebensgeschichte eines Rebellen. Berlin 1924, S.33.
[20] Ebenda S.65.
[21] Ebenda S.69.
[22] Ebenda S.71.
[23] Holitscher, Arthur: Es geschah in Moskau. Berlin 1929, S.116f.
[24] Koestler, Arthur: Als Zeuge der Zeit. Frankfurt am Main 1989, S.19.
[25] Ebenda S.35 und 38.
[26] Ebenda S.37.
[27] Koestler, Arthur/Németh Andor: Nagyvárosi történetek. Budapest 1997, S.255.



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